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Zwei Europas stehen sich gegenüber

Ob der Mensch durch und durch ein Deutscher ist, oder ob ihm das nur ab und zu passiert, das ist die Frage, um die Romain Garys nun wiederveröffentlichter Roman aus dem Zweiten Weltkrieg kreist

War im Zweiten Weltkrieg Pilot der Luftwaffe: Romain Gary, hier 1956 Foto: imago

Von Jens Uthoff

Ende 1942, nahe Vilnius. In den Wäldern rund um die litauische Großstadt, die von den Nationalsozialisten besetzt ist, verstecken sich Partisanen, zweitausend Kilometer südöstlich tobt die Schlacht von Stalingrad. Auch der polnische Junge Janek Twardowski harrt im Wald allein in einer Erdhöhle aus; sein Vater hatte ihn in einen Unterschlupf mit Vorräten gebracht, um ihn zu retten. Der 14-Jährige stößt auf die Gruppe von Widerständlern, er freundet sich mit dem Studenten Adam Dobranski an, der sich mitten im Partisanenkrieg mit der Poesie und dem Schönen beschäftigt und der an einem Buch arbeitet. „Europäische Erziehung“ heißt es. Er liest seinem jungen Freund kapitelweise daraus vor.

Das nun wiederaufgelegte Buch des französischen Schriftstellers Romain Gary (1914– 1980) heißt ebenfalls „Europäische Erziehung“; der Student Adam ist gewissermaßen ein Alter Ego des Autors im Roman. Romain Gary, eigentlich Roman Kacew, stammte aus einer jüdischen Familie aus Vilnius, lebte jedoch vom Jugendalter an in Frankreich. Im Zweiten Weltkrieg war Gary Pilot der Luftwaffe der Freien Französischen Streitkräfte, nach dem Krieg machte er Karriere als Diplomat und Schriftsteller und erhielt gleich zweimal den Prix Goncourt (für „Die Wurzeln des Himmels“ und „Du hast das Leben vor dir“). Den Roman „Europäische Erziehung“ veröffentlichte er erstmals 1944, später sah er dieses Werk als seine größte Lebensleistung an. Als Schriftsteller geriet er in den vergangenen Jahrzehnten – zumindest im deutschsprachigen Raum – in Vergessenheit.

Es ist gut und ergibt Sinn, dass die Geschichte um Janek (oder Jan) gerade jetzt wiederveröffentlicht wird. Was heißt Erwachsenwerden in finstersten, grausamen Zeiten, was bedeutet Solidarität und Kameradschaft, wie verhalten sich Krieg und Moral zueinander, was verbleibt vom Guten im Angesicht des Bösen? Letztere Frage ist so etwas wie die Grundfrage von „Europäische Erziehung“, so lässt der Autor den Studenten und Schriftsteller Adam über sein Werk sagen: „Es gibt Momente in der Geschichte, Momente wie diesen, in denen der Mensch ein Versteck braucht, eine Zuflucht, (…) und diese Zuflucht kann alles sein, manchmal braucht es nur ein Lied, ein Gedicht, ein Musikstück oder ein Buch. Ich wünsche mir, dass mein Buch so eine Zuflucht wird.“

Janeks Zuflucht ist unter anderem seine Jugendliebe Zosia. Zosia dient den Nazis als Prostituierte, wird immer wieder vergewaltigt, sie ist Spionin der Partisanen. Auch für sie ist die Liebe zu Janek ein vager Hoffnungsschimmer. In einem zentralen Dialog philosophieren beide über Liebe und Hass, Krieg und Faschismus, allein diese Passage lohnt die Lektüre, man kann sie als kurze Abhandlung über die Conditio Humana lesen.

In einem zentralen Dialog philosophieren beide über Liebe und Hass, Krieg und Faschismus

Janek wird Teil des Partisanenkrieges, er leistet Botendienste, hilft den „Waldlern“ bei Vorstößen und Anschlägen. Das moralisch gute Handeln, referiert er in einer weiteren zentralen Stelle, kann es nicht ­geben. Denn als die Partisanen auf einen deutschen Deserteur treffen, der ihnen glaubhaft vermittelt, dass er sich ihnen anschließen will, erschießen sie ihn trotzdem, „weil das Zeichen an ihm klebte: Deutscher. Und weil wir ein anderes Zeichen trugen: Pole“. Abgesehen davon durchzieht die Frage, ob das Faschistische im Menschsein und in der Menschheit angelegt ist, den Roman. So sagt Adam zu Janek: „Es sind ja nicht nur die Deutschen. Die Verzweiflung ist überall, seit Urzeiten bedroht sie die Menschheit. (…) Die Frage ist doch, ob der Mensch durch und durch ein Deutscher ist oder nicht, oder ob ihm das nur ab und zu passiert.“

Romain Garys Werk verhandelt, deshalb natürlich der Titel, auch die Idee von Europa. Zwei Europas stehen sich in der Handlung gegenüber, der von „Erschießungskommandos, Sklaverei, Folter, Vergewaltigung“ geprägte Kontinent und jener mit den Werten von „Freiheit, Menschenwürde, Solidarität“. „Europäische Erziehung“ ist entsprechend eine Wiederentdeckung zur richtigen Zeit. Man liest das Buch anders in dem Wissen, dass der Krieg in der Ukraine auch über die Zukunft Europas entscheiden wird, und mit der Ahnung, dass die Nachkriegsordnung endgültig passé ist. Eine Zuflucht bietet Romain Garys Roman somit nur bedingt. Gelegenheiten. über die Kriegsschauplätze der Gegenwart zu reflektieren, dafür umso mehr.

Romain Gary: „Europäische Erziehung“. Aus dem Französischen von Birgit Kirberg. Wagenbach Verlag, Berlin 2025. 224 Seiten, 24 Euro

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