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Zuspitzung in der UdSSR

■ Moskau übernimmt litauische Wirtschaft / Nationalisten gewinnen auch estnische Wahlen / KPdSU spaltet sich / Gorbatschow kündigt Wirtschaftsreform an

Berlin(taz) - Die Krise in der UdSSR spitzt sich zu. Am Montag beauftragte Präsident Gorbatschow die Regierung mit der Durchsetzung des Kongreßbeschlusses zur Verhinderung der litauischen Unabhängigkeit. Noch am selben Tag veröffentliche Ministerpräsident Ryshkow eine Erklärung, in der die Unionsregierung beauftragt wurde, das Funktionieren der Verkehrswege und der Energieversorgungseinrichtungen in Litauen zu gewährleisten. Diese Einrichtungen sollten durch die Sicherheitsorgane geschützt werden. Die Betriebe Litauens seien Eigentum der Union, heißt es. Der KGB und das Innenministerium hätten die Aufgabe, die Einhaltung der Zollvorschriften zu gewährleisten.

Während am Dienstagmorgen Gerüchte über militärische Aktionen zur Durchsetzung dieser Erklärung die Runde machten, gab sich die litauische Regierung selbstbewußt. Präsident Landsbergis meinte, die Erklärung sei ein Zeichen von Unwissenheit in Moskau und beruhe auf Fehlinformationen. Die Eigentumsfrage müsse nach „internationalem Recht“ gelöst werden. Einseitige Erklärungen der UdSSR seien unakzeptabel.

Der harte Ton aus Moskau wird wohl nicht lange Bestand haben. Es scheint gesichert, daß Gorbatschow, wie schon am Sonntag, Verhandlungen ankündigen wird und damit nicht nur die Lage entspannt, sondern sich selber als Vermittler inszeniert.

In der Erwartung von baldigen Verhandlungen hatte am Vortag schon der Präsident der Bank von Estland kräftig auf die Pauke gehauen. Die Union habe eine Wirtschaftsblockade gegen die Baltenrepubliken verhängt, sagte er. Die Maßnahmen, mit denen die sowjetische Bank für Außenwirtschaft das Staatsmonopol im Außenhandel aufrechterhält, seien nicht weit von einem „richtigen Handelskrieg“ entfernt.

Währenddessen gewann auch in Estland die Volksfront die Wahlen. Von 66 ausgezählten Mandaten entfallen an sie 49. Gorbatschow traf sich am Montag schon mit estnischen Nationalisten. In der Ukraine und Belorußland kam es zu Wahlerfolgen für grüne und reformistische Gruppen. Widersprüchliches verlautet dagegen aus Moskau und Leningrad, wo verschiedene rechte und linke Gruppen Erfolge erzielt haben sollen.

Durch die Wahlergebnisse beflügelt, will sich jetzt die Demokratische Plattform (DP) von der KPdSU abspalten und eine Sozialdemokratische Partei gründen. Dies verlautete am Montag. Möglicherweise hängt damit eine noch unbestätigte Meldung zusammen: die vor einigen Tagen von Leonid Abalkin vorgeschlagenen radikalen Wirtschaftsreformen sollen jetzt offizielle Politik Gorbatschows sein. Solch eine Entscheidung wird zweifellos den Spaltungsprozeß in der KP noch beschleunigen.

Dominic Johnson

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