: Zum Lachs ist Rotwein bekömmlich
Nicaragua nach den Sandinisten — Teil II: Unter Chamorro wächst der Hunger/ Medikamente werden unerschwinglich/ Besonders auf dem Lande sterben immer mehr Kinder/ 'La Prensa‘ schreibt stattdessen über Wein und Pasteten ■ Aus Managua Ralf Leonhard
„Heute gibt's kein Abendessen, morgen kein Frühstück“, seufzt die 27jährige Maritza Gomez und schiebt ihrer zweijährigen Tochter ein paar Erdnußlocken zwischen die Zähne. Gemeinsam mit dem neunjährigen Sohn Julio Cesar bewohnen die beiden eine Hütte im neu entstandenen Slum „Entrada de Pancasan“, am Rande eines gediegenen Mittelstandsviertels in Managua. Die Behausung aus ein paar schiefen Brettern und Pappkartons, die neben einer illegalen Müllhalde auf dem nackten Erdboden steht, bietet gerade Platz genug für ein Bett und ein Regal, wo ein paar Teller und Plastikbecher stehen. „Wenn es regnet, steht mir das Wasser bis zu den Knöcheln“, erzählt Maritza. Sie verdient sich den Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Maiskolben. Julio Cesar geht nachmittags in die Schule und muß vormittags am Straßeneck Kaugummi verkaufen.
Erstmals in der neueren Geschichte Nicaraguas spricht man im Land vom Hunger. In den vergangenen Wochen ist aus abgelegenen Regionen im Norden der Hungertod von mehreren Campesinos gemeldet worden. Selbst in Managua sterben heute Kinder an Unterernährung und immer mehr Menschen ernähren sich aus den Abfallhalden am Rande der Märkte. Das tägliche Glas Milch, das seit letztem Jahr an die Schulkinder verabreicht wurde, ist seit dem Machtwechsel aus den meisten öffentlichen Schulen verschwunden. Volksspeisungen, die im Februar von einer privaten Organisation zur Förderung des Soja-Bohnenkonsums als Pilotprojekt gestartet wurden, ziehen täglich mehr Kinder und stillende Mütter an.
„Einmal am Tag essen wir“, erzählt die 25jährige Carmen Meza. Zur Tortilla gibt es bestenfalls etwas Reis, für die proteinreichen Bohnen reicht es schon nicht mehr. Ihre fünf Kinder sind blaß und ohne Energie. „Ich bringe sie gar nicht mehr zum Gesundheitsposten“, sagt Carmen, „denn dort verschreiben sie mir nur Medikamente, die ich mir sowieso nicht leisten kann“. Sie will sich demnächst sterilisieren lassen, denn „warum sollte ich Kinder in die Welt setzen, die mir dann wegsterben“.
Der staatlich festgesetzte Mindestlohn von 35 Millionen Cordobas (ca 35 US-Dollar) deckt heute gerade 20 Prozent des als Existenzminimum festgesetzten Warenkorbes. Die Preise steigen wöchentlich mit jedem neuen Abwertungsschub, die Löhne bestenfalls einmal im Monat. Medikamente sind für den Großteil der Bevölkerung unerschwinglich geworden, seit die Volksapotheken in rentable Betriebe umgewandelt wurden. Monatlich sterben hundert Kinder, laut Gesundheitsminister Ernesto Salmeron mehrheitlich an heilbaren oder verhinderbaren Krankheiten. Eine Masernepidemie, die seit Wochen in Nicargua wütet, hat vor allem unterernährte Kinder umgebracht.
Die Folgen der Wirtschaftspolitik der Regierung werden durch das Fehlen einer Ernährungspolitik schon unter der sandinistischen Regierung und durch Witterungskatastrophen verschäft. Dieses Jahr ist die Mais- und Bohnenernte großteils einer Dürre zum Opfer gefallen. Die Region um Ciudad Dario, 80 km nördlich von Managua, wurde vor einem Monat bereits zum Katastrophengebiet erklärt. Mitten in der Regenzeit ist dort alles verdorrt und der Grundwasserspiegel auf ein historisches Tief von sechs Metern abgefallen. Laut Francesco Vincenti, Vertreter der Vereinten Nationen in Nicaragua, sind 70 Prozent der Landbevölkerung von der Dürre betroffen. An der Atlantikküste hat Hochwasser währenddessen ganze Dörfer überflutet.
Eine Studie der Vereinten Nationen, wonach 80 Prozent der Nicaraguaner in extremer Armut leben, machte vor kurzem Schlagzeilen — allerdings nicht in der offiziösen 'La Prensa‘. Das Blatt der Präsidentin Violeta Chamorro berichtete im Sozialteil stattdessen, daß Rotwein immer beliebter werde und vor allem zu Lachs und Pastetengerichten besonders bekömmlich sei.
Die Serie wird in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt. Der erste Teil erschien am 11.9.
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