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Zum Chauvi gemacht

betr.: „Unterm Strich“ (Annette von Droste-Hülshoff),

taz vom 1. 12. 99

[...] Natürlich hätte ich nichts gegen ein Liebes-Sexverhältnis Droste/Schücking! Warum auch? Nur, dieser Klatsch, der schon zu Lebzeiten Drostes und Schückings entstand, wird immer wieder gerne hervorgekramt, wenn AutorInnen ihren Text zwischen zwei Buchdeckeln „interessanter“ machen wollen.

Die moderne Literaturforschung ist zu anderen Ergebnissen gekommen. Wären einige der Droste-Gedichte, wie Klett behauptet, Beleg für ein intimes Verhältnis, hätte die Dichterin es wohl vermieden, sie zu Lebzeiten zu veröffentlichen! Genau das aber hat sie in ihrem 1844 bei Cotta erschienenen Gedichtband getan. Das angeblich „herzzerreißende“ Liebesgedicht „Das sind dir Hieroglyphen...“ widmete die Droste textlich unverändert, nur mit dem Titel „An Elise“ gleichzeitig ihrer Freundin Elise Rüdiger. Wird es dadurch etwa zum Beleg für lesbische Neigungen?

Im Übrigen haben die Droste und Schücking selber schon zu Lebzeiten dem Klatsch deutlich widersprochen. Zitat Schücking: „... weil diese Alltagsmenschen kein Verhältnis zwischen einem Manne und einer Frau sich denken können, das rein freundschaftlich ist!“ Und die Droste: „Ich will wie eine Verwandte für Sie sorgen; ich will Sie wie einen Bruder lieb haben; ich will jemand haben, für den ich sorgen kann ...“

Ich halte es für bedauerlich, dass ein seriöser Schulbuchverlag wie Klett, um bei Schülern „Interesse für Literatur zu wecken“, auf die Wiedergabe eines seichten Romankapitels zurückgreifen muss und solchen krausen Fantasien in Arbeitskapiteln dann noch Authentizität verleiht! [...] So wird aus dem Journalisten und Literaten Levin Schücking (1814 bis 1883), der bereits Jahre vor der 48er-Revolution für Pressefreiheit, demokratische Grundrechte und Frauenemanzipation (!) in Leitartikeln und seinen Büchern auftrat, in einem deutschen Schulbuch ein Chauvi ... Heinz Thien, Sögel

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