: »Zu uns kommt doch keiner heraus«
■ In Marzahn fehlt es an sozialen Betreuungsstellen für Kinder/ Freie Träger zieht es kaum in die Schlafstadt
Kein Bild wäre besser geeignet, die Situation der sozialen Einrichtungen in Marzahn zu beschreiben, als der Ort, an dem sich die Familienfürsorge befindet: Klein und unscheinbar nimmt sich die freistehende alte Villa vor den hochragenden Plattenbauten aus. So bescheiden wirkt auch die Zahl sozialer Betreuungsstellen für die rund 69.000 Kinder und Jugendlichen bis 26 Jahren.
Außer der Familienfürsorge und dem jugendpsychiatrischen Dienst bieten nur noch die Diakonie und Lebenshilfe mit zwei oder drei Mitarbeitern Hilfe an. Der dringend benötigte schulpsychologische Dienst befindet sich erst im Aufbau.
Damit ist Marzahn weit entfernt von den Orientierungszahlen, die für andere Stadtbezirke gelten. Nach diesen müßte es doppelt so viele psychologische Betreuer geben. Der hohe Kinderanteil von Marzahn wäre dabei nicht einmal berücksichtigt worden.
Die behördlichen Einrichtungen sind überfordert, und freie Träger wie etwa eine Kinderschutzorganisation oder freiarbeitende Psychotherapeuten etablieren sich kaum am Stadtrand. »Zu uns will doch keiner raus«, stöhnt Psychologe Frank Taffelt von der Familienfürsorge. In Marzahn gebe es nicht viel mehr psychologische Betreuer als etwa in einem einzigen Büro des Vereins »Kind im Zentrum« in Berlin-Mitte. Auch Selbsthilfegruppen kommen schwer in Gang. Zum Vergleich: Im 157.000 Einwohner starken Kreuzberg sorgen rund 150 soziale Projekte und Einrichtungen von Caritas bis zum Kinderladen für eine differenzierte Infrastruktur.
»Wir geraten zunehmend unter Druck«, berichtet Frank Taffelt, der in der Familienfürsorge pro Woche zehn Neuanmeldungen verzeichnet. Den großen Zulauf scheint die Innensenatsverwaltung zu ignorieren — sie kürzte der Familienfürsorge für nächstes Jahr zwei der vier Psychologenstellen. »So können wir unseren Anforderungen nicht annähernd gerecht werden.«
In der Beratung beobachtet der Psychologe vermehrt depressive Symptome bei Kindern, die sich meist durch Kopfschmerzen und Ängste äußern. Immer auffälliger sei die Altersgruppe der neun- bis 15jährigen. Ein Mädchen etwa wollte aus Angst nicht mehr in die Schule gehen, weil sie sich von einer Jugendbande bedroht fühlte. Hilflos reagierten die Eltern eines 14jährigen Jungen, der ebenfalls das Schulhaus nicht mehr betreten wollte.
Die besondere Beschaffenheit des Schlafbezirkes wirke sich auf das Verhalten der Jugendlichen aus: »Hier gibt es wenig Lebendiges, Spannendes, deshalb suchen sie nach einem Ersatz.« Diesen böten ihnen lediglich Fernsehen und Gewaltvideos. »Sie isolieren sich, und dadurch fehlen ihnen wichtige Antriebe aus einem sozialen Umfeld.« Dies führe zu Frustration und aggressivem Verhalten, also einer gewalttätigen Bewältigung des Alltags. Der Psychologe beobachtet ein Wachsen der Aggressivität: »Ich glaube, wir sind erst am Anfang. Gewalt wird in Zukunft eine noch viel größere Rolle spielen.« coe
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