: Zirkus ohne Späne
■ Der ungarische Choreograph Josef Nadj und die Compagnie Anomalie zeigen mit Le Cri du Caméléon einen Zirkus der skurrilen Sonderklasse
Philipp Astley würde sich die Augen reiben: Von dem, was der Gründer des ersten Zirkus' 1772 in London unter seinem Dach versammelte, ist beim neuen französischen Zirkus nichts mehr übrig. Keine Seiltänzer, keine Athleten, keine tanzenden Pferde, nicht einmal ein Hauch von Sägespänen ist geblieben. Auch die Neuerungen des 19. Jahrhunderts – Messerwerfer, Raubtierdressuren und Pausenclowns – werden vom derzeit international überaus erfolgreichen „nouveau cirque“einfach ignoriert oder bestenfalls als nostalgische Zitate verwurstet. Die Magie liegt nicht in der glamourösen Präsentation, sondern im schlichten, direkten Kontakt mit dem Publikum.
„Ich versuche, ein Körnchen Poesie in meine Arbeit zu bringen, ohne das geht es nicht. Poesie, Humor, voller Körpereinsatz und Risiko: daraus formen wir ein Ganzes“, erklärt Josef Nadj seine Arbeit mit der Compagnie Anomalie. Der ungarische Choreograph, der seit 17 Jahren in Frankreich arbeitet, hat mit zehn Abschlußschülern des Centre National des Arts du Cirque ein Spektakel einstudiert, das seinen Hochseilakt zwischen den Genres vollbringt. Zirkus, Theater und Tanz sind gleichwertiges Ausgangsmaterial der skurrilen, humorvoll melancholischen Melange Le Cri du Caméléon, die nicht klassisch Nummern reiht, sondern aus den Artisten Figuren macht, die zueinander in Beziehung stehen.
Das ist das Neue des nouveau cirque: Während die Poesie bereits mit Roncalli in die Manege zog, liegt der Ansatz der jungen Compagnien auf dem inneren Zusammenhang der Vorführungen, dem, was Nadj „ein Ganzes“nennt. Jonglage und Artistik sind nicht effekthascherischer Selbstzweck, sondern Mittel eines orginellen Ausdrucks.
Dieser ist erklärtes Lernziel der Pariser Schule, von der auch die in Hamburg bereits bekannten Compagnien Cirque O, Cirque Baroque und Les Noveaux Nez stammen: Zwar werden in der fünfjährigen Ausbildung alle klassischen Zirkusdisziplinen geprobt, doch geht es vor allem um die Erarbeitung einer eigenen Sprache. „Wie alle Kunsthochschulen orientieren wir uns an der Zukunft und nicht an der Vergangenheit“, betont Bernard Turin, Leiter des Centre National. Gegründet wurde die staatliche Zirkusschule Mitte der achtziger Jahre auf Initiative des damaligen Kulturministers Jack Lang.
Das Engagement der öffentlichen Hand hat sich gelohnt: Der an seinem sterilen Schneller-Höher-Weiter-Anspruch krankende Zirkus hat sich noch einmal erneuert und wurde zu Frankreichs erfolgreichstem und schönstem Kulturexport der letzten Jahre. Christiane Kühl
Premiere: So, 13. April, Kampnagel, k6
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