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Ziemlich schräg

■ Vanilla Gorgon mit »Das Konzert findet nicht statt«

»Leiden Sie manchmal unter Verfolgungswahn? Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie müßten unbedingt zur Arbeit gehen? Liegen Sie manchmal wach im Bett und betrachten Ihren Ehepartner? Spüren Sie manchmal eine gewisse Angst, die Kontrolle zu verlieren?«

Ja, genau. Genau das ist es. Wenn ich morgens aufstehe, frohen Mutes das Tagwerk beginne, schreite fürbaß — und plötzlich klingt es dumpf und hohl unter meinen Schritten, der Boden wird unsicher, was ist los? Riesige Hohlräume unter mir, alle anderen scheinen nichts zu merken oder finden's normal, Mann, reiß dich zusammen, ich lasse mir nichts anmerken, gehe weiter, der Schweiß bricht mir aus, ein Erdbeben oder was? Bilde ich mir alles nur ein? Nein, schnell weiter, ich drücke mich durch parkende Autos, jetzt sind SIE schon direkt hinter mir, mit einer geschickten Körpertäuschung nach links verschwinde ich rechts im Seiteneingang zu Reichelt und kaufe mir eine 5-Minuten-Terrine... Gerettet!

Eigentlich sind wir schon lange tot, aber es lebt sich ganz gut weiter so. Wer sagt da, Leben und Tod seien unvereinbare Gegensätze? Meine Freundin fängt schon an zu riechen, aber das macht nichts, denn es handelt sich um Liebe, klarer Fall, und »ich kann lieben, notfalls mit Gewalt«. Wir nippen am bitteren Cocktail des Nichts und haben eine Menge Spaß dabei. Das Leben ist banal, drum machen wir uns die Abgründe selbst: aus schwarzer Seide.

Ein wunderbarer Abend im Cafétheater »Kuckucksei« in der Wrangelstraße: »Das Konzert findet nicht statt«, Lieder und Szenen des Autors Friedhelm Kändler. Er nennt das Ganze »Wowoismus« — für die, die es noch nicht wissen — »die Frage auf die Antwort Dada«. Selten habe ich derart sinnvollen Nonsens, solch treffende Absurdität gesehen. Mitten in der banalsten Situation reißt er tiefste Abgründe auf, geht es um Leben und Tod: »Die Angst vorm Tod ist kein Grund zu leben.« Also geht es für sie um Selbstmord, während er an einem Hühnerbein knabbert. Und nur weil er, der Mann ihrer Träume, so überzeugend platt und selbstverständlich im Leben steht, schrammt sie noch einmal knapp am Tod vorbei. Aber dieser Mann ihrer Träume ist eh ein Zombie: Fünf Jahre hatte er brav in der Umkleidekabine darauf gewartet, daß der Arzt ihn hereinruft. Inzwischen war sie eingezogen...

Die beiden DarstellerInnen Irmtraud Frederking und Alfons Kujat von Theater Vanilla Gorgon und der Pianist Frank Augustin spielen mit Distanz, keine fettigen Charaktere, sondern trockene Versatzstücke von Individuen. Das erhöht die Komik und Tragik, erzeugt Absurdität. Der Abend macht einen lachen, rührt aber auch an. Es wird keine Kunst geboten, die einem hermetisch, groß und überwältigend gegenübertritt, sondern ganz leise und privat in ein ziemlich schräges Gespräch verwickelt: »Es blieb ein bestimmtes Gefühl und die bayerischen Alpen.« Und das Leuchten ungemein schwarzen Humors. Wolfgang Böhmer

Theater »Vanilla Gorgon« im Café Kuckucksei, Wrangelstraße 79, Berlin 36, jeweils Fr-So 21 Uhr. Vorbestellungen: 6185563 (Das Theater hat nur 35 Plätze!)

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