: Ziemlich normal mies
■ Eine Welle der Entzauberungen: Wagner-Urenkel Gottfried zerzauste den Mythos Bayreuth und Germanist Wilson demontiert heute einen Politiker namens Goethe
Griesgrämige Personen behaupten ja oft deprimierende Dinge. Zum Beispiel, daß es keine Tabus mehr gäbe. Doch da kennen sie die Kunst- und Literaturwissenschaftler nicht. Die stürzen einen Kunstheiligen nach dem anderen vom Sockel, den Frauenschänder Brecht, Bum, den Frauenschänder Picasso, Bum, den Faschisten Manfred Hausmann, Bum, den Antisemiten Fontane, alles Bruch. Im Goethejahr muß es natürlich auch den Alten treffen.
„Das Goethe-Tabu“ nennt W Punkt Daniel Wilson seine Entlarvungs-Etüde. Sie beginnt spektakulär. Jener Mensch, der im Faust allen Kindsmörderinnen ein rührendes, um Verständnis werbendes Denkmal setzte, hielt es in seinem Zweitberuf als geheimer Rat ganz ungeheim für „räthlich“ bei Kindsmord „die Todtesstrafe beyzubehalten“. Jenes Auseinanderklaffen zwischen hehrem Bewußtsein und staatstragendem Sein wird des weiteren durchdekliniert bei den Themen: Söldnerverkauf an England, Verbot von Geheimbünden, Spitzelwesen an Unis, Einschüchterung revolutionsfreundlicher Professoren in Jena (wie zum Beispiel Fichte). Das Schlußresümee: „Sachsen-Weimar war ... ein ziemlich normaler Kleinstaat“ und eben nicht eine Insel der Seligen unter einem grenzenlos liberalen Herzog Carl August, der nichts lieber gesehen hätte, als daß sein Machtmonopol durch den Geist der Aufklärung hinweggespült worden wäre. Superaktuell wirkt das Buch übrigens weniger wegen Weimar als Kulturhauptstadt –99, sondern weil wir ja auch seit September –98 ein Regierungsteam am Hals haben, das einst feine Dinge dachte, und nun unfein (oder schöner formuliert: pragmatisch und realitätsgesättigt) handelt. Statt nun aber bescheiden den korrumpierenden Mechanismen der Macht in Goethes Kopf hinterherzuforschen, überstrapaziert Wilson den Enttarnungsgestus gegenüber dem Alten und einer (angeblich) blinden, verherrlichungswütigen Goetheforschung. Haben wir den Saukerl erwischt, scheint Wilson sich bei jedem neuen Dokument zu freuen. Ein Antrieb, der nicht gerade zwingend differenzierte Forschungsergebnisse garantiert und die hermeneutische Tugend des Verstehens vermissen läßt. Und oft wuchert die Kommentarebene über die Faktenebene hinweg. Auch bei der Gilde der Entlarver scheint manchmal implizit die Einstellung mitzuschwingen, ein Großer hätte gefälligst durch und durch groß zu sein.
Tabu Nr.2: Wagner-Urenkel Gottfried promovierte zwar über Brecht, widmete aber große Teile seines weiteren Forscherlebens der Familiengeschichte. Auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung erzählte er, wie die Familie Wagner nach dem Krieg systematisch Wagners Antisemitismus und Hitlers Freundschaft zu Winifred (sie organisierte für den in Landsberg Verknasteten das Schreibpapier für „Mein Kampf“) herunterspielte. Durch seine profunde Kenntnis über Wagners Haßliebe zum Konkurrenten Meyerbeer, über Juden (Avi Primor, Bubis), die sich für ein Herunterspielen des Falls Wagner instrumentalisieren ließen, etc., zog sich G. Wagner natürlich den (meist nur angedeuteten) Vorwurf einer Neurotisierung von Wissenschaft zu: alles nichts anderes als ein ausgedehnter Vatermord. Erlebt man G.Wagner live, wirkt seine persönliche Involviertheit aber weniger verdächtig, als erhellend. Wie oft hört man, daß die Stunde Null ein Mythos ist, daß faschistische Traditionslinien nie richtig aufgearbeitet wurden etc., aber wie selten regt sich jemand darüber auf. Ein Schleier des So-ist-eben-das-Leben-Verständnis, den G. Wagner aber eben seinen Allernächsten nicht zubilligt. Angenehmer aber wäre eine entspannte Welt, die keine Entzauberer mehr braucht. bk
Heute, 20 h liest W. Daniel Wilson in der Hochschule/Neustadtwall aus „Das Goethe-Tabu“, dtv, 24.90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen