: Zerknitterte Psyche
■ Das DDR-Puppen-Theater »Zinnober«, — eine Legende in Film und Buch
»Wir wollten zwischen die Stühle. Wir haben Gott und Marx rechts und links liegengelassen, und den Regisseur. Den Sommer haben wir auch nicht reingelassen, weil wir uns keiner Autorität unterwerfen wollten, schon gar nicht der Natur.«
Es ist ihnen gelungen. Sie waren zwischen den Stühlen, die Mitglieder der Theatergruppe »Zinnober«, der einzigen nicht-offiziellen der DDR. Angefangen hatte es mit drei Mann im »Laden ohne Namen« am Kollwitz-Platz, über der Werkstatt von Christian Werdin: Puppenspieler aus Berlin und Neubrandenburg verließen die staatlichen Bühnen, um ihr eigenes Theater, Psychotheater nach westlichem Vorbild, zu machen. Mit dem Totalpathos des Privaten, des Tabuisierten, unterhalb der offiziellen Rede und der offiziellen Darstellungskunst. Ängste und Träume (in dem Stück »Einmal von Saßnitz nach Boston«) waren der Stoff, der kleine Wahnsinn des Alltags, der große Wahnsinn, wie er sich hinter der Mauer in deutlich unbeholfene Gesten übersetzt.
»Zinnobers« Theater war immer ein Mikrotheater. Aus ihrer Werkzeugkiste, die sie in Shakespeares »Sommernachtstraum«-Bearbeitung auf der Bühne stehen hatten, holten sie die Requisiten ihrer Improvisation hervor. Sie erzählten das Nichtweiterwissen, das Black-out, die Lücken, das Auf-der-Stelle-stehen, die Rat- und Sprachlosigkeit: sie wagten das Nichts-mehr-vormachen-Können anzubieten, fingen an, brachen ab, lachten über sich selbst, Verzweiflung, umso größer, als sie ihrer Darstellungsmittel verlustig gegangen ist. Mit »traumhaft«, der vorangegangenen Produktion, hatte es begonnen: In einer Nummernfolge wurde von den einzelnen die verkleisterte, verknitterte Psyche erzählt, Kleinstgeschichten aus der Mauerumstellung, der Sehnsucht nach Italien, den Ferien mit der FDJ — damit kam die Gruppe bereits an die Grenze, mit sich selbst, dem Staat, ihrer Kunst.
Daß die neun Leute kaum Auftrittsmöglichkeiten bekamen, angesetzte Aufführungen abgesagt werden mußten, zeitweise nur in verschiedenen Klubhäusern außerhalb gespielt werden konnte, nur nicht in Berlin, schildert ein erst jetzt fertiggestellter und bisher noch nicht öffentlich aufgeführter Dokumentarfilm mit dem Titel »Der gordische Knoten - Erinnerungen an Zinnober«. Jochen Kraußer, Regisseur bei der DEFA, konnte sein lange geplantes Projekt erst nach der Wende endlich verwirklichen. Nur, daß es jetzt »Zinnober« schon nicht mehr gibt. Der 77minütige Dokumentarfilm ist daher eher eine persönliche Liebeserklärung Kraußers an die Gruppe als eine Dokumentation ihrer Theaterarbeit: er nimmt die einzelnen Personen, so verstreut, wie sie nach all den Ereignissen sind, noch einmal beschützend in seine Bilder auf, läßt sie die Theatergeschichte als Geschichte persönlicher Obsessionen und unterschiedlicher Erwartungen erzählen, zeigt die Schauspieler privat. Leider ist der Film nicht so sperrig und abstrus wie »Zinnober«, ist zu intim, bewegt sich zwischen Theatergeschichte und persönlichen Biographien unentschlossen hin und her. Als solcher wird er kaum für medienwürdig befunden werden; höchstens wird er vielleicht einmal bei einem Dokfilmfestival vorgeführt werden.
Auch das erst jetzt erschienene Buch über die Gruppe mit dem Titel »traumhaft« kommt zu spät. Vom Autor Dieter Kraft für den Aufbau- Verlag schon 1988 geplant und fertiggestellt, wurde es erst jetzt gedruckt. Ein literarisches Sammelwerk, ein Konvolut von Proben- und Traumprotokollen, Konzeptpapieren, Texten zu den Stücken »Station Pillgram 218« und »traumhaft«, Publikumszuschriften, Notaten, Fotos. Einzeltexte, die aus vielen Perspektiven gut die Atmosphäre und Suche zwischen 1985 und 1990 dokumentieren. Manchmal in einer Stimmung, wie sie Jan Faktor beschreibt: »Es wäre genauso gut, nur den Kindern beim Wachsen zuzuschauen.« Michaela Ott
Der gordische Knoten - Erinnerungen an Zinnober von Dieter Kraft im Aufbau-Verlag, 19,80 DM.
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