: ZWISCHEN DEN RILLEN VONCHRISTOPHWAGNER
Da steht ein Sänger mit einer Stimme wie ein Kalb, die anderen schreien mit ihm wie Hunde um die Wette, und man versteht nicht, was sie singen“, so schäumte Savonarola, ein Fanatiker Gottes — 1498 als Ketzer verbrannt — im Florenz des 15.Jahrhunderts. Sein Zorn richtete sich gegen moderne Entwicklungen innerhalb der Meßkomposition und deren Hauptvertreter, den frankoflämischen Komponisten Josquin Desprez. Unter seinem maßgeblichen Einfluß hatte sich die Messe, als wichtigste musikalische Gattung der frühen Renaissance, immer weiter von ihrem ursprünglichen liturgischen Anlaß gelöst und war mehr und mehr zu einer autonomen Kunstform geworden. Durch kunstvoll polyphone Ausformungen hatten die Texte an Verständlichkeit eingebüßt und standen in der Gefahr, ihre religiöse Wirkung zu verlieren.
Die Anfänge der Messe, als zentraler gottesdienstlicher Handlung der Liturgie des westlichen Abendlandes, reichen bis in die klösterlichen Gemeinschaften des ersten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung zurück, als es Aufgabe der Mönche war, im Namen aller Gebete zu sprechen — jede Stunde, jeden Tag. Diese Gebete wurden nicht stumm gemurmelt, sondern gesungen, weil man der Überzeugung war, daß Gott das gemeinsame Gebet aus einem Mund zum Rhythmus der Musik angenehmer sei. Unter Karl dem Großen wurden die Gesänge der Kirche, darunter auch die der Messe, reformiert und auf eine gültige Form festgelegt.
Aus dem 11.Jahrhundert sind erstmals bescheidene Ansätze von Mehrstimmigkeit in bestimmten Meßteilen aus England und Frankreich überliefert, eine Tendenz, die sich im 12. und 13.Jahrhundert fortsetzte. Um 1350 komponierte Guillaume de Machaut die erste vollständige mehrstimmige Vertonung der festen Meßpartien („Ordinarium Missea“) in seiner Messe de Nostre Dame. Durch die Verbreitung von Kapellen an den Kathedralen des Mittelalters erfährt die Messe — als musikalisch geschlossener Zyklus — im 15.Jahrhundert einen deutlichen Aufschwung. Guillaume Dufay schaffte um 1450 den Prototyp einer „Cantus-Firmus- Messe“, in der eine Leitmelodie (Cantus Firmus), die jetzt auch der weltlichen Musik entnommen sein konnte, sich durch das ganze Werk verbindend hindurchzieht. Ein Modell, das zur Orientierung vieler Komponisten wird, die jetzt die Meßkomposition immer kunstvoller verfeinern. Ein Meister darin ist Josquin Desprez. Er wurde um 1440 in der Picardie (heute Nordfrankreich, bis 1477 Burgund) geboren — „jenseits des schwarzen Wassers“, wie er später einmal sagte — und wurde schon als Knabe einer Sängerausbildung unterzogen, wie die meisten Komponisten der frankoflämischen Epoche. Später arbeitete er vor allem in Italien, wo ausländische Musiker sehr gefragt waren. Josquin galt als bedeutendster Komponist seiner Zeit, der neben Motetten vor allem die Messe zu einer hohen musikalischen Form entwickelte. Als einer der ersten im Abendland begriff er das Komponieren als einen künstlerischen Akt, der sich von einer handwerklichen Tätigkeit grundsätzlich unterschied.
Vom englischen Gimell-Label, einem Spezialisten für frühe Vokalmusik, liegen zwei superbe Vertonungen von vier Messen von Josquin Desprez auf Platte vor. Gesungen werden sie von den Tallis Scholars — unter der Leitung von Peter Phillips —, einem der besten Vokalensembles aus der starken britischen Gesangstradition. Sie präsentieren diese Musikform der Frührenaissance in einer Perfektion, die Staunen macht, ohne es dabei an Einfühlungskraft mangeln zu lassen. Die Klarheit des vokalen Vortrags bringt die feinverästelte Filigranpolyphonie scharf zur Geltung. Darüberhinaus versteht es der Solistenchor, das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Disziplin, das der Musik Josquins inhärent ist, interpretatorisch überzeugend wiederzugeben.
Platten:
Josquin: L‘homme armé Masses. The Tallis Scholars (Gimell 019).
Josquin: Missa Pange lingua/Missa La sol fa re mi. The Tallis Scholars (Gimell 009).
(Über: Connaisseur-Musik, Waldstr. 62, 7500 Karlsruhe, Tel. 0721/25612)
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