■ Nach dem Hamas-Attentat sucht Israel fieberhaft nach Lösungen und verfällt auf die alten, erfolglosen Methoden: Wut und Vernunft
Sieben Monate lang bestand eine Art Waffenstillstand zwischen der islamistischen Hamas-Bewegung und der palästinensischen Führung – und damit auch mit Israel. Warum gab es während dieser relativ langen Zeit keine Terroranschläge? Weil die palästinensische öffentliche Meinung dagegen war. Auf der palästinensischen Seite herrschte Optimismus, die Wahlen waren ein großer Erfolg, man sah, daß langsam ein palästinensischer Staat entsteht.
Jassir Arafat hat diese Zeit genutzt, um die Terroristen zu isolieren. Er hat Hamas angeboten, sich als legitime Partei ins neue politische System einzugliedern. Die Hamas-Führung im Lande neigte dazu. Eine Hamas-Delegation reiste mit stillschweigender Einwilligung der israelischen Regierung nach Khartum, um die Zustimmung der obersten Hamas-Führung im Auslang dafür zu gewinnen. Das mißlang, weil diese Führung von Iran abhängig ist. Aber die Hamas-Leute im Inland waren bereit, inoffiziell mit Arafat zu paktieren. Viele von ihnen nahmen auch, gegen den ausdrücklichen Befehl der Auslandsführung, an den Wahlen teil.
In diesem entscheidenden Moment hat der israelische Sicherheitsdienst, mit Zustimmung von Schimon Peres, einen unheilvollen Fehler gemacht. Es handelt sich um einen der übelsten Terroristen, Jahja Ajasch, der im Verdacht stand, die Sprengladungen für frühere Anschläge hergestellt zu haben. Wie die Medien nun mal sind, haben die israelischen Zeitungen und Fernsehstationen ihn mit einer Art dämonischem Nimbus ausgestattet. Sie gaben ihm den Spitznamen „der Ingenieur“ (er war keiner), und der Sicherheitsdienst erkärte ihn zum Volksfeind Nummer eins. Nach vielen Bemühungen gelang es dem Schin-Bet (auch Schabak genannt), den „Ingenieur“ in Gaza zu töten. Man hat behauptet, daß der Schin-Bet-Chef, der wegen Rabins Mord zum Rücktritt gezwungen war, sich diesen Erfolg als eine Art Abschiedsgeschenk geleistet hat, natürlich mit Genehmigung seines Vorgesetzten, Ministerpräsident Peres.
In Israel löste das allgemeine Begeisterung aus, die Opfer der Anschläge waren gerächt. Aber auf der andere Seite war die Wut ungeheuer. Auch entschiedene Gegner der Terroristen waren empört, daß Israels Geheimdienst im Gebiet der palästinensischen Selbstregierung (fälschlich Autonomie genannt) operierte. Ajasch wurde Märtyrer und Nationalheld, der Ruf nach Vergeltung fand Widerhall. Damit war den Terroristen ein neuer Jagdschein gegeben.
In Israel haben die drei Massenanschläge in Jerusalem und Aschkelon einen nationalen Wutausbruch verursacht. Man sucht fieberhaft nach „Lösungen“ und fällt auf die alten, erprobten und erfolglosen Methoden zurück: Demolierung von Häusern, Sperre der palästinensischen Gebiete, vielleicht auch Deportationen und weitere Anschläge auf Terroristen, die sich dort verstecken. Leider haben gerade diese Methoden immer das Gegenteil bewirkt. Die Absperrung der palästinensischen Gebiete von Jerusalem und Israel verursacht, daß 40.000 palästinensische Arbeiter nicht zur Arbeit kommen können. Das heißt, eine halbe Million Menschen wird als Kollektivstrafe an die Grenze des Hungers gebracht, denn die versprochene europäische (auch deutsche) Hilfe für den palästinensischen Staat-im-Werden ist jämmerlich. Palästinensische Kranke, die nicht in die Krankenhäuser in Ost-Jerusalem kommen können, verursachen Verbitterung.
In meiner frühen Jugend war ich ein paar Jahre lang Mitglied einer Terrororganisation (der Irgun, die gegen die englische Kolonialregierung in Palästina kämpfte) und weiß aus Erfahrung, daß so eine Organisation nur gedeihen kann, wenn sie die Unterstützung mindestens eines Teils der öffentlichen Meinung genießt. Sie braucht Hilfe, neue Rekruten, Unterschlupf, Geld, Waffen, Propagandamittel. Die einzige Art, den Terror zu besiegen, ist, diese Unterstützung abzugraben und die öffentliche Meinung gegen ihn zu mobilisieren. Das kann nur Arafat tun, und er hat auch das allergrößte Interesse, damit Erfolg zu haben. Denn obwohl die Opfer der Anschläge Israelis sind, ist ihr Ziel doch, den Frieden zu verhindern und damit Arafat und die Selbstregierung zu stürzen.
In Israel wird das nicht eingesehen. Es herrscht die Wut, und die Wut ist kein guter Ratgeber. Um ihre Mißerfolge zu rechtfertigen, wälzen die Sicherheitsdienste – und auch Peres selbst – die Verantwortung auf Arafat ab, obwohl die Terroristen aus Gebieten kommen, in denen noch die israelische Besatzung herrscht. Das ist leicht und populär, aber führt nur zur weiteren Schwächung des Friedensprozesses. Politisch ist das für Peres selbstmörderisch, denn wenn Arafat nichts taugt, dann taugt auch die Arbeiterpartei, die mit ihm den Friedensprozeß eingeleitet hat, nichts. Und dann haben eben die Rechten recht, die vom Anfang an gegen das Oslo-Abkommen waren – obwohl sie gerade im Begriff waren, das Abkommen als Fait accompli zu akzeptieren.
Was jetzt zur Prüfung kommt, ist die Charakterstärke Schimon Peres'. Ist er ein zweiter Rabin oder nicht? Hat er die nötige innere Überzeugung, um den Friedensprozeß fortzuführen und sogar zu beschleunigen?
In weniger als drei Wochen muß, laut Abkommen, Hebron, die problematischste aller Städte im Lande, von Israels Armee geräumt werden. Um den Friedensprozeß zu retten, muß das unbedingt geschehen, denn sonst wird sich die palästinensische öffentliche Meinung gegen das Friedensabkommen wenden. Es wird aber in Israel nicht populär sein, und es ist fraglich, ob die Arbeiterpartei es wagen wird, das mitten im Wahlkampf zu tun.
Arafat versucht jetzt, doch zu einem stillschweigenden Abkommen mit Hamas und Israel zu kommen. Er wird Hamas ein Ultimatum stellen: Umwandlung zur politischen Partei, Einstellung aller Gewaltakte, Auflösung aller militärischen Verbände, Abgabe aller illegalen Waffen. Von Israel will er die Einstellung der Jagd auf Hamas-Aktivisten in den palästinensischen Gebieten und die Entlassung der Hamas-Häftlinge aus den israelischen Gefängnissen. Das ist noch möglich. Noch. Die Frage ist, ob Peres es wagt.
Das Traurige an der ganzen Geschichte ist, daß eine Handvoll von Terroristen heute praktisch das Schicksal zweier Völker bestimmen. Nur eine enge Zusammenarbeit zwischen Peres und Arafat kann dem ein Ende setzen. Der „Frieden der Mutigen“, von dem Arafat so oft und so gerne spricht, braucht eben Mut. Uri Avnery
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