: Wovor fürchten sich Justizminister ...?
■ betr.: „Faire Chance für Lebens längliche“, taz vom 29. 3. 96
[...] Die Initiative Klingners ist sehr zu begrüßen, da sich die SPD bislang noch nie für diese Forderung eingesetzt hat. Allerdings ist das von Klingner geforderte Höchstmaß der Ersatzzeitstrafe von bis zu 25 Jahren als entschieden zu hoch abzulehnen. Fragwürdig bleibt auch, warum Herr Klingner die Forderung ausgerechnet zu dem Zeitpunkt erhebt, an dem er aus seinem Amt scheidet und gerade mal wieder Wahlen vorbei sind. Wovor fürchten sich SPD-Justizminister, die im Amt sind, wenn sie den sachlichen Argumenten gegen die lebenslange Freiheitsstrafe auch öffentlich Recht geben würden?
Verschiedenste Menschenrechtsgruppen, die in der Straffälligenarbeit engagiert sind, setzen sich seit Jahren für die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe ein. Sie versuchen damit, zum einen gegen die oft medial geschürte irreale Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung anzugehen, zum anderen außerparlamentarischen Druck auf die Politik zu entfalten. So hat im Mai 1995 ein Bündnis von 13 bundesweit tätigen Gruppierungen [...] auf Initiative des Komitees für Grundrechte und Demokratie hin eine von über 4.300 UnterzeichnerInnen getragene Petition zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe dem Deutschen Bundestag übergeben. [...] Im Vorlauf zu dieser Aktion hatte das Grundrechte-Komitee im Jahr 1993 und 1994 jeweils eine Expertenanhörung zu dieser Frage veranstaltet. Dabei hatten Kriminologen, Politologen, Theologen und Praktiker wie Haftanstaltsleiter die lebenslange Freiheitsstrafe als eine sinnlose und menschenrechtswidrige Strafform bezeichnet. Als Strafform nützt diese weder den Tätern noch den Opfern. Opferhilfe wird lediglich vorgetäuscht, die Täter jedoch werden stigmatisiert und entwürdigt, perspektivlos ihrer Freiheit beraubt sowie einem dauerhaft schädigenden Desozialisierungsprozeß ausgesetzt. Damit widerspricht die Strafe dem Grundgesetz (Menschenwürde und Freiheit der Person) sowie ausdrücklich auch dem Ziel des Strafvollzugsgesetzes, das die Resozialisierung – zumindest auf dem Papier – als Vollzugsziel angibt. Auch eine präventive Wirkung, das meistgebrauchte Argument für die Beibehaltung der Strafe, ist nicht nachweisbar. Die Einführung des § 57 a in das Strafgesetzbuch, dem gemäß nach 15 Jahren eine Entlassung vorgenommen werden kann, wenn keine Gefährlichkeit prognostiziert und keine „besondere Schwere der Schuld“ angenommen wird, hat real – im Verhältnis zur früher umfangreicher praktizierten Gnadenregelung – zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Strafverbüßungszeiten auf circa 21 Jahre geführt. Für etwa jeden fünften Lebenslänglichen bedeutet diese Strafform auch in der Wirklichkeit lebenslage Strafe, da sie im Gefängnis sterben.
Vor kurzem noch wies das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe ein Gesuch auf Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe eines krebskranken 58jährigen Mannes zurück, der bereits 34 Jahre Haft verbüßt hat. Das OLG „korrigierte“ damit ein Urteil des Landgerichts, das eine Mindestverbüßungsdauer von 50 Jahren für schuldangemessen hielt, auf eine Mindestverbüßzeit von 42 Jahren. Der 58jährige hat lt. Aussagen seiner Ärzte noch eine Lebenserwartung von maximal fünf Jahren. Hierin zeigt sich der Unsinn der sogenannten Schuldschwereklausel. Wie kann irgendein Mensch Schuld in Haftjahre umrechnen? Die lebenslange Freiheitsstrafe muß abgeschafft werden!
Hoffentlich haben immer mehr Politiker den Mut, sich dieser Forderung von Menschenrechtsgruppen und Gefangeneninitiativen anzuschließen. Martin Singe, Projektgruppe „Wider die lebenslange Freiheitsstrafe“ im Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln
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