piwik no script img

Wolodja (45), Natascha (40)

Sie sprechen beide ein Moskauer Russisch, dem man die Bildung Intellektueller anmerkt. Beide sind Philharmoniker (Gitarre, Querflöte) aus Petersburg, verheiratet, ein Kind. Genau um dieses Kind geht es. Deswegen sind sie hier. Wiktor ist 21 und sitzt im Gefängnis Kolpino, das als die grausamste Jugendhaftanstalt Russlands gilt. Natascha weint, als sie davon erzählt. „Ein guter, begabter Junge ist unser Wiktor. Er spielt Klavier und war auf dem besten Wege, ein großer Musiker zu werden. Wie soll man aber Musik machen, wenn nichts zu essen da ist. Seit der Perestroika ging es mit der Kultur in unserem Land immer mehr bergab. Die Leute haben kein Geld mehr für Konzertkarten, die Häuser müssen schließen, die Musiker werden ohne Zukunft entlassen. Unser Junge war sechzehn, als wir arbeitslos wurden. Er hörte auf zu üben, begann sich herumzutreiben und zu trinken. Wir wussten nicht, dass er mit einem anderen Jungen zusammen an einer Pistole bastelte. Als die Miliz kam und uns sagte, unser Wiktor hätte im Vollrausch einen Jungen erschossen, brach für uns die Welt zusammen. Mit viel Geld könnten wir durch Bestechung versuchen, dass Wiktor in ein anderes Gefängnis verlegt wird. Mit Geld geht in Russland inzwischen alles. Wir sind nach Berlin gekommen, um hier zu Geld verdienen. Es hilft uns auch, den ganzen Tag zu musizieren. Das lenkt ab, denn die Musik ist eine Trösterin.“ Wolodja blickt jetzt auf und nickt. „Ich beneide die Menschen, die hier an uns vorbeikommen“, sagt er. „Sie haben ein Ziel, wissen, wohin der Tag sie heute führt. Alles wirkt so geordnet in Berlin. Kein Chaos, wie bei uns in Russland. Und freundlich sind die Leute. Jeder sieht hier anders aus, hat einen anderen Kleiderstil, als könne man hier seine eigene Persönlichkeit entfalten. Obwohl ich in meiner Seele Russe bin, würde ich gern hier leben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen