Wolf Lotter über die Grünen: Lieblinge der Beamten

Was wäre, wenn die Grünen tatsächlich eine fortschrittliche Partei wären?

Foto: Jonas Liebermann

Von WOLF LOTTER

Nicht weniges am Verhalten erwachsener Konsumbürger ist in dieser Welt ein wenig verrückt. Wer sich dafür interessiert, dem empfiehlt sich bis heute, beim alten Sigmund Freud nachzulesen. Sein Werk, die Psychoanalyse, baut ganz entscheidend auf dem Vorhandensein eines merkwürdigen und gleichsam weitverbreiteten Verhaltens: dem Wiederholungszwang.

Wir werden gleich sehen, dass diese Neurose auch in der Partei-Analyse eine große Rolle spielt, nicht nur, aber doch ziemlich stark bei jener Kraft, die gerne von Veränderung spricht: den Grünen.

Die gleichen Tricks, die gleichen Typen, die gleichen Phrasen

Ein Wiederholungszwang ist eine Art Tick mit Selbstverletzung. Man tut etwas, das sich bereits in der Vergangenheit als schädlich, schmerzhaft, als Reinfall und Unfug erwiesen hat, immer wieder. Jede und jeder kennt das, von sich selbst und anderen. Wir fallen immer auf die gleichen Tricks rein, die gleichen Typen, die gleichen Phrasen. Alles spricht dafür, dass sich Menschen durch ihre eigenen Routinen ins Abseits befördern. Oder, wie es Bob Dylan so schön formulierte: »Ah, you know, some babies never learn.« Was der Meister uns damit sagen wollte, ist unzweideutig: Some heißt nicht alle, und der Wiederholungszwang ist kein Schicksal, sondern könnte durch Lernen und ernsthaftes Bemühen überwunden werden.

»Lass dich nicht mit Idioten ein.«

Lemmy Kilmister

Bei der Frage nach einer gelungenen Transformation hängt vom Verstehen des Wiederholungszwangs alles ab: Wer nicht weiß, dass er in der Tretmühle steckt, kann sie nicht verlassen. Sämtliche ernst zu nehmende progressive Politik hat deshalb immer das Verstehen, das Lernen, an die erste Stelle der Veränderung gestellt: Erkenne dich selbst. Oder mach halt weiter immer den gleichen Fehler.

Festes Treten in die Pedale der untergehenden Weltmaschine

»Die Definition von Wahnsinn ist, immer das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten«, heißt der populäre (und fälschlicherweise Albert Einstein zugeschriebene) Leitsatz. Immer das Gleiche zu tun bedeutet nicht nur, im alten, industrialistischen System zu denken, so wie es viele Manager, Journalisten und Politiker tun, die meinen, Transformationsarbeit lasse sich mit lockeren Bekenntnissen und Sprüchen erledigen, während sie weiterhin fest in die Pedale der untergehenden Weltmaschine treten.

Das war und ist natürlich verrückt. Noch einen Ticken wahnsinniger aber ist, wenn jemand längst verstanden hat, dass man sich etwas Neues einfallen lassen muss für diese Welt, andere Formen der Arbeit, der Produktion, der Mobilität. Wenn man Jahr und Tag behauptet, man würde für eine bessere Welt arbeiten – aber dann doch immer nur von der schlechten alten Welt redet und sich gleichsam mit dieser gemein macht.

Der Wiederholungszwang gilt also vielleicht sogar ganz besonders dort, wo man ihn nicht vermutet, bei denen, die ganz laut und ganz häufig von Transformation reden, das aber nur in passiver Reaktion formulieren auf das, was ist und falsch läuft. Freud rechnete den Wiederholungszwang den konservierenden Trieben zu.

Liebling der Beamten und öffentlich Bediensteten

Industrie lebt von der Routine, der Wiederholung. Industriekapitalismus ist eine Zwangsneurose, in der der Wiederholungszwang herrscht. Konservative Parteien sind dabei nicht nur jene, die in der Industriegesellschaft entstanden sind und deren Logik weiterführen, sondern auch jene, die glauben, postindustriell oder postmaterialistisch zu sein, während sich ihre vermeintlich neue Politik immer nur an altem Unfug reibt.

Der Wiederholungszwang der Grünen ist genau das: Das Gros der Politik besteht nicht in einer eigenen, kreativen, die Chancen der Transformation ergreifenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, sondern vorwiegend im Herummäkeln an dem, was war und keine Zukunft hat. Kein Wunder, dass die Grünen mit dieser Luftnummer zum neuen Liebling der Beamten und öffentlich Bediensteten geworden sind, also jenen, die ganz besonders auf Sicherheit, Bestand und Systemkontinuität setzen.

Die Wissensökonomie spielt überhaupt keine Rolle. Mehr als vier Millionen Selbstständige, die von den großen Volksparteien gleichermaßen als Systemabweichler verachtet werden – ihre Diskriminierung ist mit den Corona-Hilfen überdeutlich geworden –, sind den Grünen, den angeblich Anwälten des Neuen, wurscht. Natürlich liegt das auch an den sozialen Milieus, aus denen sich die Parteien nähren – nicht nur, aber eben auch die Grünen aus dem gehobenen Mittelstand, dem Bürgertum, den Erben, den Beamten.

Auflösung der alten »Normalarbeitsverhältnisse«

Soziale Aufsteiger, Menschen also, die Transformation aus der Praxis kennen, sind immer noch die Ausnahme in der Politik. Und wenn sie, wie Cem Özdemir oder Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz, in den Zimmern der Macht ankommen, dann sitzen dort schon die, die zu nahe an den alten Routinen denken und leben, als dass sie sie verlassen wollten. Anders ist es nicht zu erklären, weshalb ausgerechnet die Arbeit, die große emanzipatorische Kraft der letzten Jahrhunderte, weiterhin so eng und lohnabhängig, weisungsgebunden und unselbstständig gedacht wird wie einst auf dem Gutshof. Auch wenn dort ökodynamisch gewirtschaftet wird, bleibt er doch, was er ist: Ein im Licht der Aufklärung inakzeptables Relikt der alten Macht.

Die digitale Transformation führt wie selbstverständlich zur Auflösung der alten »Normalarbeitsverhältnisse«, darüber herrscht nicht nur in zahllosen Zukunft-der-Arbeit-Kaffeekränzchen aller Parteien und Lobbys seit Langem Einigkeit. Netzwerke verlangen ein weitaus höheres Maß an emanzipierter, selbstbestimmter, selbstständiger Arbeit. Die Kinder der Industriegesellschaft werden in der Wissensgesellschaft erwachsen. Emanzipiert. Selbstbestimmt. Gleichsam ist damit die Auflösung der alten Präsenzpflichten verbunden, die die Angestelltenarbeitswelt aus jener der Fabrikgesellschaft übernahm. Viele müssten nicht mehr pendeln, im Stau stehen. Für Mensch und Klima wäre das super, für Autohersteller und all die superdeutschen Jonny Controllettis in den Unternehmen nicht, aber genau das müsste eine auf Emanzipation gepolte Partei doch eigentlich wollen, oder?

Ein Jahrhundertprojekt

Dafür müsste doch jetzt Zeit sein nach der Bundestagswahl. Genauso wie es wichtig wäre, jetzt zu betonen, dass es kein Zurück vor die Pandemie geben wird. Die Netzwerkarbeit bleibt! Was für wirtschaftliche Impulse das wären! Es wäre wunderbar für Städteplaner und Architekten, wenn sie endlich die alte industrielle Ordnung der Trennung des Lebens- und Arbeitsplatzes auflösen und menschen- und wissensarbeitsgerechte Lebensräume schaffen dürften, in denen man zu Fuß, mit dem Rad zur Arbeit kommt, auch wenn man nicht zur herrschenden Klasse im Prenzlauer Berg gehört. Wo man einfach dort, wo man lebt, auch in Ruhe arbeiten kann.

Foto: Jonas Liebermann

Dazu braucht man, ja, eine großartige Ausstattung mit Breitbandnetzen, genügend Raum, damit Lebendigkeit und Konzentration nebeneinander existieren können. Zugegeben: Das erfordert Expertise, das ist mitunter mühsam. Denn was wir heute wirklich brauchen, sind Lösungen, die ein Nebeneinander ermöglichen, nicht von zwei oder drei Varianten, sondern von tausend. Komplexität wäre der beste Freund einer fortschrittlichen Kraft im 21. Jahrhundert. Nicht das ständige Wiederholen von »weniger ist mehr« löst unsere Probleme, sondern die ernsthafte und dabei freundliche Annahme von Vielfalt.

Was für ein Jahrhundertprojekt wäre das, wenn man nur mal, ganz visionsfrei, Städte und Dörfer und Häuser und Wohnungen so bauen würde, dass man sich darin nicht gegenseitig auf den Wecker geht, wenn die einen spielen und die anderen arbeiten wollen.

Städte, die nicht für Autos gebaut werden, sind ruhiger, sie sind sicherer, gesünder, zukunftsfähiger. Kinder können in ihnen spielen, Menschen können in ihnen leben und darüber nachdenken, was man besser machen könnte, ohne ihren eigenen Routinen auf den Leim zu gehen.

Grundeinkommen und Grundsicherung, die Luft zum Neuanfang lassen

Wenn man nicht in seine industriekapitalistischen Wiederholungsticks, sondern, mit Ernst Bloch, »ins Gelingen verliebt« wäre (in den Kern des »Prinzips Hoffnung« also), dann wären Klimaschutz, Mobilitätswende, Digitalisierung, neue Arbeit, endlich auch die Fähigkeit zu Innovation durch mehr selbstbestimmtes und eigenständiges Arbeiten und Denken in Netzwerken kein Problem mehr. Keine Reaktion, sondern Aktion braucht auch eine dazu passende soziale Sicherungsinitiative, ein Grundeinkommen und eine verbindliche Grundsicherung, die Luft zum Neuanfang lassen. Dazu gehört ein rigoroses Inventurmachen bei zu vielen Regeln, die alles verhindern, und das Entwickeln neuer Regeln, die gleichsam der Vielfalt gerecht werden und positive Unterschiede hervorheben. Mehr Respekt vor der Person. Und weniger Formalismus und Bürokratie. Das hat Zukunft, im Gegensatz zu dieser Neurose, das alles werde sich schon im endlos langen Marsch durch die Institutionen einpendeln.

Die Grünen sind, wie die Linke auch, einfach immer noch zu sehr Kinder des Industriezeitalters, das sie angeblich ablösen wollen. Dieser Wiederholungstick war übrigens auch eine Ursache für ihr mieses Wahlergebnis. Denn wer wirklich, wirklich nachdenkt, was denn eigentlich an positiven, praktischen Verbesserungen des Zustands, den man kennt, drin ist, der findet in der Endlosschleife der deutschen Grünen wenig Ansätze. Leute, die erfolgreich verändern, ermöglichen das Neue, kulturell, technisch, sozial, menschlich. Sie schaffen etwas, sie sind innovativ. Damit ist eben nicht alter Wein in neuen Schläuchen mit ein bisschen Marketing gemeint. Sondern handfeste Angebote, mit denen man die Transformation ganz entspannt im Hier und Jetzt machen kann, anstatt sie mit Utopiegequatsche und Visionstricks auf den Sankt Nimmerleinstag zu verlegen.

Wer aus dem Wiederholungszwang aussteigt, seine Triebe erkennt und auch beherrscht, der hat ein Angebot für heute und für die Zukunft, und ist damit selber eines. Systeme gehen wie Schiffe mit Mann und Maus unter, also dem gesamten Personal und allem Zubehör, auch wenn sie glauben, die Opposition zu sein. Opposition ist Mist, wenn sie nur reagiert. Macht aber auch, wenn sie nicht verändern will oder kann.

WOLF LOTTER ist Autor zum Thema Transformation, Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins und dessen langjähriger Leitessayist. Soeben erschienen: Strengt euch an! Warum sich Leistung wieder lohnen muss. Ecovin 2021

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.

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