: Wohnungslos
■ betr.: „Die Sehnsucht nach Suff“, taz vom 27. 12. 95
[...] Zunächst einmal sehnen sich die allermeisten Menschen, die ohne Wohnung leben, weniger nach Suff als nach Wohnung. Und viele von ihnen verzweifeln schon deshalb an der Welt, weil sie auf Mark und Pfennig genau wissen, wie teuer ihr Aufenthalt in einer Notunterkunft ist. Sicher gilt für Berlin ebenso wie für Bremen, daß die Kosten für 30 Übernachtungen weit höher liegen als der Satz, den das Sozialamt als Miete für eine individuelle Wohnung übernehmen würde. Wer Rente oder Arbeitslosenhilfe bezieht, und das sind nicht wenige unter jenen, die in Notunterkünften hausen, muß seine Bezüge bis auf ein geringes Taschengeld zur Deckung der Kosten ihres Aufenthalts in einem derartigen „Heim“ abtreten. Aus Empörung über diese Zumutung nächtigen manche selbst bei bitterer Kälte auf Platte. Andere tun dies, weil sie die aufgezwungene Gemeinschaft und den Ton, den viele der Mitarbeiter ihnen gegenüber anschlagen, zu meiden versuchen. Wenn sie vor Kälte oder Schwäche kapitulieren, so retten sich manche, indem sie die Einrichtung morgens sehr früh verlassen und abends erst spät zurückkehren. Und dann gibt es auch Menschen ohne Wohnung, die es schaffen, „trocken“ zu bleiben, obwohl sie sich gezwungen sehen, wochen- und manchmal monatelang zusammen mit schweren Alkoholikern zu nächtigen.
Auf die Schnelle sind solche Nachrichten aus einer Welt, die den meisten von uns sehr fremd ist, freilich nicht zu haben. Und man soll sich nur ja nicht einbilden, angetrunkene Heiminsassen kehrten vor einem hereinschneienden Journalisten ihr Innerstes nach außen. Schmunzelnd erzählen uns manchmal unsere Bekannten unter den Wohnungslosen Bremens, wie sie wieder einmal einen Journalisten auf die Schippe genommen haben, ihm zum Beispiel sagten, sie fänden das doch ein angenehmes Leben, so ganz ohne Kehrwoche und Schneefegedienst. Peter Lerch hat sich die tollsten Bezeichnungen für billigen Fusel servieren lassen und diese dann als Nachrichten aus dem Elend verkauft.
Ohne Zweifel: Viele Menschen, die ihre Wohnung verloren haben beziehungsweise nach der Entlassung aus dem Gefängnis oder nach dem Verlust einer Arbeitsunterkunft (zum Beispiel auf einem Schiff) nie eine finden konnten, trinken. Manchmal landen sie dann auch im wahrsten Sinne des Wortes in der Gosse. Zusätzlich hineinstoßen sollten wir sie nicht. Das jedoch geschieht, wenn ein Bericht über ihre Lebensumstände nach dem Muster gestrickt ist: Aus Elend kommt Suff. Solch Journalismus versetzt auch den Säufern unter den Wohnungslosen noch einen zusätzlichen Tritt. Neulich sagte mir einer, es verlangten immer alle von ihm, er solle mit dem Saufen aufhören. Aber nie sage man ihm, wie er eigentlich mit seiner „inneren Not“ – so seine Formulierung – zurechtkommen solle.
In den Gesellschaftswissenschaften hat sich inzwischen wohl endgültig die Erkenntnis durchgesetzt, daß Interessen und Handlungen von Individuen nicht bloßer Reflex ihrer materiellen und sozialen Lage sind. Was wir über „den Menschen“ gelernt haben, sollten wir nicht vergessen, wenn es sich um Männer und Frauen handelt, die keine Wohnung haben. Bislang habe ich noch niemanden kennengelernt, der zusammen mit seiner Wohnung auch die Sehnsucht nach Würde verloren hätte. Wer über Menschen in Notunterkünften so schreibt wie Peter Lerch, wirft ihre Würde in eben den Dreck, in dem zu hausen sie sich gezwungen sehen. Heide Gerstenberger,
Professorin an der Universität
Bremen und Mitarbeiterin in der
„Tasse“, einer Tagesstätte für
Wohnungslose
[...] Nichts stimmt in dem Artikel – das begleitende Foto zeigt eine Frau, die in das Heim geht, die Personen in dem Artikel sind alle Männer. Allein die Ankündigung – „Champagnerplautze“ – zeigt in eine falsche Richtung, als ließe sich von Sozialhilfe irgendwie Champagner kaufen. Dann die Wortwahl – Lerch macht Menschen, die unter Scheißbedingungen leben müssen, noch mit seiner Schreibe weiter runter: „die Horde der tätowierten Alten, die ... vor sich hinsabbern. Langhaarige, unrasierte Dulder ... schlurfen ... mit schlackernden Schuhlaschen ...“ Langhaarig wird, ach wieder, so zu einer schlechten Eigenschaft; unrasiert darf wohl nur sein, wer dazu die Kohle hat.
Und nicht nur das, was die beschriebenen Männer ausmacht, wird ihnen zum Nachteil hingeschrieben. In einer Reihe stehen dann gleich die unsäglichen Lebensbedingungen, die ihnen unser „Sozialstaat“ bietet, und werden latent in ihre Verantwortung geschoben – die Latrinen sind so verkeimt, daß sie jedes Menschenauge beleidigen. Da schwingt aber auch kein Hauch von Empathie mit drin, da nimmt Lerch mit keinem Worte wahr, daß auch die Heimbewohner dieses so empfinden, sein Blick von außen nimmt ihnen gleich ihr Menschsein ab. [...] Jörg Heinemann, Hamburg
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