: Wo sind die Millionen?
Der Volkswirtschaft fehlt es nicht an Geld, und trotzdem muß allerorten gespart werden. Die Knete geht für Zinsen drauf ■ Von Helmut Creutz
Gemeinden schließen Bibliotheken und Schwimmbäder – Bonn kürzt den Sozialstaat – Nürnberg spart an den Geldern für die Arbeitslosen... Solche Meldungen kann man fast täglich in der Zeitung lesen. Doch die Einsparungen an allen Ecken und Enden reichen nicht aus, zudem verscherbeln Bund, Länder und Gemeinden auch noch ihr Tafelsilber: Post, Bahn und vor allem Immobilien. Und weil auch das nicht ausreicht, werden immer höhere Schulden aufgetürmt, die wegen ihrer Zinsbelastung die Engpässe wiederum vergrößern. Allein der Bund muß bereits ein Viertel seiner Einnahmen für den Zinsendienst aufbringen – weit mehr als für die vielgeschmähten Militärausgaben.
Doch wie kommt es zu dieser Ebbe in den öffentlichen Kassen? Geht die Wirtschaftsleistung zurück, wird unser Land ärmer? Das kann es nicht sein. Von 1980 bis 1992 haben wir unser Sozialprodukt um real 33 Prozent gesteigert. Selbst vergangenes Jahr wuchs die Wirtschaft noch um fast zwei Prozent. Zwei Prozent Wachstum heute aber sind in absoluten Mengen soviel wie zehn Prozent in den fünfziger Jahren.
Noch günstiger sieht die Sache bei den Geldvermögen aus. Diese haben von 1980 bis 1992 real sogar um 68 Prozent zugenommen; Tag für Tag wachsen sie um über eine Milliarde Mark an. Allein die Zinseinnahmen für diese Geldvermögen betragen fast 900 Millionen täglich.
Wie aber ist es möglich, daß angesichts dieses ständigen Leistungs- und Reichtumswachstums die Armut bei uns um sich greift? Wenn man einen ausreichend großen Kuchen unter einer gleichbleibenden Zahl von Essern aufteilt, braucht niemand Hunger zu leiden. Schneidet aber jemand vorab ein größeres Stück heraus, bleibt den anderen weniger übrig. Es sei denn, sie backen einen größeren Kuchen. Wachsen die Ansprüche jenes Nimmersatten jedoch rascher, als man den Kuchen größer backen kann, werden – trotz des immer größeren Kuchens – die Hungerleider immer mehr.
Genauso ist es in der Wirtschaft: Unser Leistungskuchen – das Sozialprodukt – wird jedes Jahr zwischen Kapital und Arbeit aufgeteilt. Allerdings steht der Anteil des Geldkapitals schon von vornherein fest: Er resultiert aus dem Zinssatz. Da die Geldvermögen seit 30 Jahren rascher wachsen als die Wirtschaftsleistung, fallen die Arbeitseinkommen bei der Aufteilung des Wirtschaftskuchens relativ immer mehr zurück.
Sind die Zinssätze hoch, explodieren entsprechend die Zinsbelastungen der Schuldner. So mußten beispielsweise die produzierenden Unternehmen 1992 mit durchschnittlich etwa 12.000 Mark je Arbeitsplatz doppelt soviel an Zinsen aufbringen wie vier Jahre zuvor. Hochverschuldete Unternehmen wurden dadurch zu Zehntausenden in den Konkurs getrieben, die anderen zu Einsparungen bei Investitionen und Lohnkosten gezwungen. Die Arbeitslosigkeit erreicht jeweils ein bis zwei Jahre nach dem Zinsgipfel ihren Höhepunkt.
Konjunktureinbruch und abnehmende Beschäftigung schlagen sich wiederum in den öffentlichen Kassen als rückläufige Steuereinnahmen nieder. Verstärkt werden diese Engpässe noch durch krisenbedingt ansteigende Sozialkosten. Vor allem aber schlägt der rasante Anstieg der öffentlichen Schuldenzinsbelastung zu Buche, da mit den höheren Zinsen auch der Zwang zur Verschuldung wächst.
Abzumildern sind diese steigenden Belastungen nur durch ein weiteres Wachstum der Wirtschaft – gleichgültig, ob dabei die Umwelt auf der Strecke bleibt. Denn den Politikern bleibt heute nur die Wahl: Entweder ohne Wachstum in den sozialen oder mit Wachstum in den ökologischen Kollaps. Da jedoch das Wirtschaftswachstum schon lange nicht mehr mit dem der Geldvermögen und Zinsströme mithalten kann, steuern wir auf beides zu.
Schulden können immer nur im Gleichschritt mit den Geldvermögen zunehmen. Denn leihen kann man immer nur von einem, der etwas übrig hat. Doch die ständig wachsenden Geldvermögen bieten nicht nur Möglichkeiten zu weiteren Verschuldungen, sie zwingen auch dazu. Denn wird das übrige Geld aus den Kassen der Zinsbezieher nicht über Kreditaufnahmen in die Wirtschaft zurückgeführt, kommt es zu geldmangelbedingten Kreislaufunterbrechungen. Sind Unternehmen und Privathaushalte nicht ausreichend zu weiteren Kreditaufnahmen bereit, „dann muß der Staat das am Markt entstehende Kapitalüberangebot aufnehmen, weil anderenfalls eine deflationäre Wirtschaftsentwicklung einsetzen würde“. Auf diesen Verschuldungszwang, speziell der öffentlichen Haushalte, hat schon vor einigen Jahrend der Wirtschaftsprofessor Rüdiger Pohl, einer der „fünf Wirtschaftsweisen“, in der Zeit hingewiesen.
Entscheidend für das Überwachstum von Geldvermögen und Schulden ist der Tatbestand, daß die Zinssätze seit Jahrzehnten über den Wachstumsraten der Wirtschaft liegen. Das ist nur möglich, weil sich der Zins im Gegensatz zu allen anderen Marktpreisen den Kräften von Angebot und Nachfrage entziehen kann. Denn sinkt der Zins unter eine bestimmte Grenze, verknappen die Geldhalter einfach ihr Angebot, indem sie zum Beispiel ins Ausland ausweichen, und verhindern damit ein weiteres Absinken.
Im allgemeinen wird angenommen, daß nur derjenige Haushalt Zinsen zahlen muß, der selbst einen Kredit aufgenommen hat. In Wirklichkeit aber müssen die Privathaushalte beziehungsweise Endverbraucher auch für die Schuldenzinsen der Unternehmen und des Staates geradestehen. Denn die gesamten Kapitalkosten der Unternehmen gehen in die Produktpreise genauso ein wie die Personal- und Materialkosten. Bei den öffentlichen Haushalten stecken sie in allen Steuern und Gebühren.
Rechnet man die schuldenbezogenen Zinslasten in Arbeitszeiten um, dann mußte 1950 jeder Erwerbstätige etwa drei Wochen im Jahr für deren Bedienung arbeiten, 1970 sieben und 1990 elf Wochen. Für 1995 kann man bereits von einem 25prozentigen Abfluß aus den verfügbaren Einkommen ausgehen und damit einer erforderlichen Arbeitszeit von einem Vierteljahr.
Dabei ist bisher nur von den Zinsen für das Geldkapital die Rede. Addiert man die den Zinsen entsprechenden Erträge aus Sachkapital, etwa Immobilien oder Maschinen, noch hinzu, dann kann man davon ausgehen, daß von jedem ausgegebenen Hundertmarkschein 40 Mark in die Kassen der Zinseinnehmer fließen.
Natürlich stehen diesen von den Privathaushalten zu tragenden Zinslasten auf der anderen Seite auch Zinseinkünfte gegenüber – fragt sich bloß, bei wem. Teilt man die gesamten bundesdeutschen Haushalte in zwei Hälften, dann besitzt die ärmere Hälfte nur vier Prozent der Geldvermögen, die andere Hälfte 96 Prozent.
Verrechnet man die Zinslasten und Zinseinkünfte gegeneinander, dann ist der Saldo bei acht von zehn Haushalten negativ und bei dem neunten Haushalt ausgeglichen. Nur bei dem zehnten Haushalt ist er positiv. Das heißt, dieses letzte reichste Zehntel der Haushalte ist der Gewinner dieses Zins- Monopoly-Spiels.
Ob man Gewinner oder Verlierer ist, kann jeder leicht nachrechnen. Er braucht nur seine jährlichen Zinserträge mit jenen 40 Prozent seiner jährlichen Ausgaben zu vergleichen, die er als Zinsverlust verbuchen muß. Oder nach einer anderen Faustregel: Um diese Zinsverluste auszugleichen, benötigt man ein zinsbringendes Vermögen, das dem Sechs- bis Siebenfachen der gesamten Jahresausgaben entspricht.
Entgegen immer wieder zu hörenden Behauptungen fehlt es in unserer Volkswirtschaft also nicht an Geld. Es sammelt sich aufgrund der zinsbedingten Wirkungsmechanismen nur immer mehr bei jenen an, die bereits viel davon haben. Der Hamburger Sozialsenator Ortwin Runde hat schon vor zwei Jahren festgestellt, daß in seinem Stadtstaat die Zahl der Millionäre und die der Sozialhilfeempfänger am raschesten zunimmt.
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