: Wo Hausboote fliegen können
Eine Reise auf englischen Wasserwegen bietet Hausboote als “schwankende Schlafzimmer“ und schnittige River-Cruiser ■ Von Michael Zeutschner
Als Gunnar das Schild mit der Aufschrift „Lock ahead“ an der Uferböschung sieht, wird er unruhig. Fest umklammern seine Hände das Rudergestänge, mit dem das Boot gesteuert wird. Gleich hinter der Kurve ist es dann soweit. Ein kurzer Blick über die gesamte Anlage, und der Zwölfjährige strahlt wieder über das ganze Gesicht – denn weit und breit ist kein Schleusenwärter zu sehen. In diesem Fall, so hatte ihm sein Vater versprochen, dürfe er die hölzerne Handkurbel bedienen. Nichts hält Gunnar an Bord, als das Hausboot mit zwei Tauen am Steg festgemacht ist. Ein kurzer Sprung an Land, dann nur noch wenige Schritte, und das vordere Tor der Schleuse (engl. lock) ist erreicht. Dort befindet sich an einem Gestänge eine Kurbel, die er kraftvoll gegen den Uhrzeigersinn dreht. Langsam öffnen sich die klobigen Holztore, und der Wasserspiegel in der Schleusenkammer sinkt auf das niedrigere Kanalniveau.
Na ja – irgendwie hatte sich Gunnar schon gedacht, daß ohne ihn nichts läuft. Als im Frühjahr die Prospekte der englischen Bootsverleiher im Briefkasten lagen, wollte sich niemand darum kümmern. Dabei wird doch dringend empfohlen, drei Monate im voraus zu buchen. Schließlich konnte er seine Eltern und seine vierzehnjährige Schwester Berit dazu überreden, zusammen ein Hausboot auszusuchen und die schriftliche Buchung vorzunehmen. Die Entscheidung fällt gar nicht so leicht, denn das Angebot an schwimmenden Untersätzen ist riesig: vom zwei Meter breiten und zehn Meter langen Hausboot mit zwei Schlafkabinen, Duschzelle, Küche und Sitzgelegenheit bis zum schnittigen River-Cruiser mit Sonnendeck, vier Schlafkabinen, Küche, Eßbereich und Bad. Ebenso variieren die Wochenpreise je nach Boot und Jahreszeit zwischen 1.000 und 3.500 Mark. Verglichen mit den Übernachtungskosten in einer englischen Pension, ist das „schwankende Schlafzimmer“ eine attraktive Alternative. Im Preis enthalten sind eine Tankfüllung und Gasvorräte, die für eine Woche reichen. Ein Hausboot legt in dieser Zeit etwa 150 Kilometer zurück (Landausflüge eingerechnet). Einzige Voraussetzung beim Buchen: mindestens eine Person muß das Alter von 21 Jahren erreicht haben. Nicht einmal ein Führerschein ist erforderlich. Direkt vor Fahrtantritt unterzieht man sich lediglich einer kurzen Einweisung durch den Verleiher. Alles andere liegt im eigenen Ermessen – zum Beispiel wo und wann man anlegt!
Das weiß auch Steuermann Gunnar. Immer wenn der Kanal an einem kleinen Dorf vorbeiführt, steht sein Vater an der Reling und hält Ausschau nach einem anheimelnden Pub. Auf seine Anregung hin wurde gestern nahe einer Windmühle festgemacht. Diese entpuppte sich als urgemütliche Gaststätte, in der herzhafte Pasteten, frischer Apfelkuchen mit einer riesigen Portion Sahne und englisches Ale angeboten wurden. Väter scheinen eine Vorliebe zum Relaxen zu haben. Berit ist da eher naturverbunden. Ab und zu äußert sie den Wunsch, die Fahrt an einer bunten Wiese zu unterbrechen. Während sie Blumen pflückt, wird die Rast zum Picknicken genutzt. Dann sitzen alle auf einem großen roten Tuch, das mit Obst, Brot und Wein gedeckt ist, und genießen die Stille. Wenn dann unerwartet die Sonne im Westen untergeht, wird die Pause kurzerhand um zwölf Stunden verlängert. Niemand hat es eilig. Wiederum anders verhält es sich mit Gunnars Mutter. Sie bekommt immer einen merkwürdig romantischen Blick, wenn ein Castle oder Herrenhaus gesichtet wird. Automatisch wirft Gunnar auch in diesem Fall die Leinen aus, und man macht sich gemeinsam auf den Weg in eine verzauberte Märchenwelt. Hausboot fahren in Britannien, das bedeutet tausendundeine Möglichkeit, den Urlaub zu gestalten.
Bei all diesen Erlebnissen werden Gunnars Freunde doch immer wieder ein Abenteuer zu hören bekommen: Als seine Eltern an Deck nichtsahnend in der Sonne dösten, Berit friedlich in ihrer Kabine einen Brief verfaßte, traute Gunnar seinen Augen kaum. Direkt vor ihm tat sich eine Schlucht auf. Ein Aquädukt, etwas breiter als das Hausboot, spannte sich in schwindelerregender Höhe über den Abgrund. Mit der Gelassenheit eines erfahrenen Seemanns lenkte Gunnar das Hausboot über die Brücke, auf der der Kanal weitergeführt wurde. Fröhlich trällerte er dabei den Schlager „Über den Wolken“ und muß wohl damit seine Mutter aufgeschreckt haben. Als diese sich umschaute und auf beiden Seiten des Bootes statt einer Uferböschung rasant kreisende Schwalben sah, entfuhr ihr ein lauter Schrei. „Bitte anschnallen und das Rauchen einstellen – wir landen in wenigen Minuten“, krächzte Gunnar und konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Daß er darauf die Gelegenheit erhielt, unter Deck für einige Stunden in seinem Englischbuch zu blättern, wird sich bestimmt im neuen Schuljahr auszahlen.
Info: Britisches Fremdenverkehrsamt, Taunusstr. 52–60, 6000 Frankfurt/M. 1, Tel. 069-2380711.
Buchungen und Prospekte: Arns GmbH, Postfach 100131, 5630 Remscheid, Tel. 02191-40116; Ashley's European Travel, Waldweg 16, 4052 Korschenbroich 2, Tel. 02161-67464.
Beste Reisezeit: April bis Juni, September und Oktober.
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