■ Querspalte: Wittstock/ Dose grüßt Berlin
Ein schlohweißes Tanzpaar, weit jenseits der Siebzig, schiebt sich millimeterweise über das Parkett der Berliner Kongreßhalle. „Steffens Disco“ spielt dazu „Geh zu ihr, und laß deinen Drachen steigen“. Steffen steht rund und zufrieden hinter seiner Tontechnik: „Der Kult ist irgendwie da, jetzt tanzen auch die Leute zu'n Puhdys, die das früher überhaupt nicht gut fanden.“
„Die Leute“, das sind heute abend beim „Fest Der Junggebliebenen“ Ex- Kaderkommandeure und Subalterne der Freien Deutschen Jugend, die laut Bild gerade eine „Geheim-Party 50 Jahre FDJ“ feiern. Und Steffen, das ist der Spezialist für „Ossi-Feten, was so'n bißchen Trend ist“, er verwechselt deshalb schon mal Veronika Fischer mit „Ute Frauenberg“. Egon Krenz hört sowieso nicht hin. Herbert Mies klebt tiefrot und steif auf seinem Stuhl, als habe er ein Aktivistenbanner verschluckt und Probleme mit dem Blutdruck. Ex-FDJ-Chef Jahn ist so unverschämt aufgeräumt, daß Bild tags darauf moniert, „Jubel-Jahn“ könne „das Lachen nicht lassen“. Hartmut König wirkt einfach nur satt.
Steffen aus Wittstock/„Dose“ legt „Sag mir, wo du stehst!“ auf. Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Danach Andy Borg: „,Schenk mir eine Sommerliebe, die ein Leben hält‘ – neue deutsche Musik aus dem Jahre '95!“ Die Tänzer applaudieren. Auf ihren Tischen liegen Eintrittsformulare für den „Förderkreis der FDJ“. Erstunterzeichner: Neutsch, Fink, Modrow. Die „Junggebliebenen“.
Steffen ruft: „Seid ihr alle gut drauf?“ – „Jahaa!“ – „Dann kommen jetzt die Flippers mit ,Acapulco‘, bitte schön!“ Im Foyer wollen die Literaten Panitz und Görlich ihre Paperbacks signieren. Mit ihren Gesichtern wäre Bild sehr zufrieden. „,Sing, mei Sachse, sing!‘ – ein Hit aus der guten Zeit, die wir hatten“, ruft Steffen im Saal. Steffen ist 27, sieht aus wie 45, und in der „guten Zeit“ war er 12. Und das in Wittstock. Ich wünsche mir von ihm Fred Frohbergs „Zwei gute Freunde“ und gehe, bevor er es gespielt hat. André Mielke
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