: Wirtschaftsreformer suchen nach dem Markt
■ Ungarn: Brisante Themen und ungewöhnliche Gäste auf einer Tagung in Györ / „Allgemeine Börse der sozialistischen Wirtschaft“
Von Farkas Piroschka
„Ein Gespenst geht durch die Welt, das Gespenst Glasnost.“ Mit diesen nicht minder komischen wie dramatischen Worten wurden die Teilnehmer einer internationalen Konferenz über die Krise der real existierenden Sozialismusmodelle im nordwestungarischen Györ begrüßt. Die Konferenz hatte Ende März die Ungarische Akademie der Wissenschaften veranstaltet, mit einer - in ihrer Zusammensetzung hochbrisanten - Teilnehmerschaft aus etlichen osteuropäischen Länden. In dieser Hinsicht war die größte Sensation sicherlich die Einladung des Tschechoslowaken Ota Sik. Er war 1968, im Prager Frühling, stellvertretender Ministerpräsident und exponiertester Vertreter der damaligen Wirtschaftsreform - seine Einladung kommt einer grundsätzlichen Revision des ungarischen Standpunktes zum anschließenden Einmarsch der Warschauer Pakt– Truppen in die Tschechoslowakei gleich. Unter den Teilnehmern war aber auch der 1968 aus seiner Heimat vertriebene polnische Reformökonom Wlodzimierz Brus, der 1956 schon die wichtigsten Züge einer sozialistischen Marktwirtschaft ausgearbeitet hatte - damals ohne Chancen, verwirklicht zu werden. Und auch der sowjetische Reformflügel war durch Oleg Bogomolow vom Institut für Sozialistische Weltwirtschaft in Moskau vertreten. Kaum aufsehenerregender als die Teilnehmerliste war das Einleitungsreferat von Imre Pozsgay, dem Vorsitzenden der „Ungarischen Patriotischen Front“. Die vielgepriesene ungarische Wirtschaftsreform hätte vor allem im Bewußtsein der Öffentlichkeit einen Wandel bewirkt. Seit 1968 gibt es in Ungarn keine festge schriebenen Produktionspläne mehr, sondern nur noch finanzielle Rahmenbedingungen, die etwa die Höhe der Gewinne vorgeben oder Spielräume bei der Entlohnung zulassen. Pozsgay kritisierte, daß damals zwar die Leistungsmethode geändert worden war, nicht aber die Wirtschaftsweise selbst. Die Lenkung der Wirtschaft erfolge bis heute unverändert durch staatliche Anweisungen. Der Grund dafür sei im Ausbleiben politischer Reformen zu suchen, denn erst das mit vollen Bürgerrechten ausgestattete Individuum könne als Subjekt einer dynamischen Wirtschaftsweise auftreten. Es sei daher notwendig, die Rolle des Staates als ausschließlicher Eigentümer der Produktionsmittel neu zu überdenken, fordert Pozsgay unter anderem. Damit lieferte er das Stichwort für die wichtigste theoretische Frage der Tagung: Durch welche Eigentums– und Verfügungsformen könnte das staatliche Eigentum, das die Ablösung der Planwirtschaft durch Marktmechanismen grundsätzlich zu verhindern scheint, ersetzt werden? An einer für alle Beteiligten akzeptablen Antwort auf diese Frage arbeiten bereits seit längerer Zeit etliche der anwesenden Ökonomen. Mitarbeiter der ungarischen Finanzforschungs AG (ein privates Forschungsinstitut, das von gemaßregelten Mitarbeitern seines staatlichen Vorläufers gegründet wurde) stellen sich eine Mischwirtschaft mit verschiedenen Eigentumsformen vor, in der Holding–Gesellschaften die Aufgaben der Kapitalverwaltung wahrnehmen würden. Eine Mischung aus öffentlichem und genossenschaftlichem Kollektiveigentum schlug unter anderem Ota Sik vor. Eine dritte Vorstellung war, die Aufsicht über das bisher staatliche Kapital einem Vermögensministerium zu übereignen. Es fiel auf, daß Selbstverwaltung kein Thema mehr war - offensichtlich hat man die Konsequenzen aus dem Niedergang des jugoslawischen Modells gezogen. Wlodzimierz Brus formulierte das Dilemma der Eigentumsfrage im Sozialismus am pointiertesten: Nur selbständige Eigentümer könnten zu einer Marktwirtschaft „zusammengebaut“ werden. Wie aber könne sich eine sozialistische Gesellschaft mit der Dominanz privaten Eigentums vertragen? Das größte Einverständnis unter den Teilnehmern herrschte denn auch bei der Feststellung, gegenwärtig handele es sich um eine allgemeine Krise der osteuropäischen sozialistischen Wirtschaftsmodelle. Das stalinistische Wirtschaftsmodell, das einem permanenten „Kriegszustand“ gleichkomme, sei für das Aufzehren aller Reserven verantwortlich. Aber hat sich auch nur eines der sozialistischen Länder von diesem Modell wirklich entfernen können? Die Diagnose der Ökonomen war vernichtend: Die bisherigen Wirtschaftsreformen haben das geschlossene „bürokratisch– despotische“ Lenkungsmodell nicht zu verändern vermocht. Der Markt und die Warenproduktion und auch das Geld werden simuliert, die Form der Wirtschaftskoordination ist weitestgehend bürokratisch, und so konnte es den weiter existierenden stalinistischen Wirtschaftsinstitutionen immer wieder gelingen, die Elemente der Reform sich anzupassen und in die alte Struktur einzuschmelzen. Die wirklich selbständigen Initiativen finden außerhalb des sozialistischen Sektors, in der zweiten und dritten Wirtschaft statt. Genau auf diesem Weg sieht der ungarische Reformökonom Tamas Bauer die Sowjetunion und China voranschreiten, da dies der Weg des geringsten Widerstandes für die autoritäre Macht ist. Nur die Reform der politischen Institutionen kann einen Ausweg aus der Sackgasse der Wirtschaft weisen - das war das Resüme der meisten Anwesenden auf dem Kongreß. Sie bekannten sich ausnahmslos zu einem offenen, marktwirtschaftlichen, demokratischen und humanen Sozialismusmodell. Ob ihre Ideen jemals die Chance haben werden, verwirklicht zu werden, ist allerdings zweifelhaft. Umso bedeutender ist die Tatsache, daß dieser Kongreß heute in Ungarn stattfinden konnte.
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