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„Wir verkaufen nach Radaupraxis“

■ Die Obstbauern in Werder greifen zur Selbsthilfe, um ihre Produkte loszuwerden / DDR-Handel blockiert den Vertrieb

Werder. „Wir haben uns schon geeinigt, wir gehen auf die Straße, wenn das so weitergeht“, sagt der Mann im blauen Arbeitsdreß und fährt sich mit der Hand über das sonnenverbrannte Gesicht. Die Lagerhalle, in der er steht, war früher eine Sammel- und Abnahmestelle für das frisch geerntete Obst aus dem Havelland, jetzt gähnen im Inneren nur noch ein paar leere Gemüsekisten - der Schuppen geht in Westbesitz über. „Dreißig Jahre Schwerstarbeit“ in der hiesigen Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft (GPG) hat der Mann nun hinter sich, und „wenn ich diesen Monat mit 500 Mark nach Hause gehe, ist das viel“. Mit den Produzenten im größten Obstanbaugebiet der DDR ist nicht mehr gut Kirschen essen.

Wie auch, wenn ihnen das Zeug an den Bäumen verfault. Die Sammelstellen des Obst- und Gemüsegroßhandels der DDR sind größtenteils geschlossen, die HO- und Konsum-Ladenketten nehmen ihnen nur noch rund zwei Prozent der Erntemenge ab und bieten statt dessen teureres Westobst feil. „Die Westpartner der HO haben den HO-Leitern mit Entlassung gedroht, wenn sie Havellandobst ins Sortiment nehmen“, flüstert man sich in Werder zu (siehe Kasten).

Die Genossenschafts- und auch die Privatbauern des Havellands sind deshalb schon längst auf die Straße gegangen. Ob in den Dörfern vor ihren putzigen Sandsteinhäusern oder vor den kilometerlangen Plantagen, in denen die Äpfel schon jetzt die Äste beugen und die Kirschen rot von den Zweigen triefen: alle paar hundert Meter stehen schüchterne Anbieter am Straßenrand, die Körbchen voll mit Kirschen, Johannisbeeren, Gurken, Möhren, Tomaten. Vor der geschlossenen Sammelstelle in Werder hat sich hinter einem rot-weißen Bauzaun schon ein ganzer kleiner Markt etabliert, auf dem Westler und Ostler einträchtig anstehen. „Schattenmorellen, vier Pfund für fünf Mark“, bietet eine alte Bäuerin in himmelblauer Schürze neben dem Stand der Genossenschaft an. Wenn ihr der Nachschub ausgeht, pflückt sie sich in ihrem Garten die Körbe wieder voll, „von 390 Mark Rente nach 30 Arbeitsjahren kann ick nich‘ leben“.

Zu viele sind es, denen es ähnlich geht. „Det wird 'n heißer Herbst“, darin sind sich im benachbarten Dörfchen Plötzin auch die Männer im Dispo-Büro der Kühlhausanlage „KE Apfellagerung“ einig. Fünf große landwirtschaftliche Genossenschaften mit insgesamt 5.000 MitarbeiterInnen liefern hier in der Haupternte je 200.000 Schälchen Erdbeeren und Kirschen an. Wohin damit jetzt? „Wir verkaufen das Zeug nach Radaupraxis; packen die Laster voll und die Trabis bis unters Dach und fahren irgendwohin, wo wir denken, daß es gekauft werden könnte.“ Besucher werden mit freundlichem Sarkasmus belehrt: „Wenn's nüscht wird, pflanzen wir hier Kiefern an und Golfplätze. Nee, nee, die Kirschen kriegen wir ja noch los, aber wenn die Tomaten kommen, mit Preisen unterm Existenzminimum, sind wir tot.“

So etwas will der Produktionschef der Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft Obstproduktion Werder nicht hören. Mitten in den Kirschfeldern stemmt er die Arme in die Hüften „Kein Absatz? So etwas dürfen Sie nicht schreiben. Von den 40 Tonnen Sauerkirschen, die wir täglich ernten, gehen 15 Tonnen übern Straßenverkauf weg und der Rest in unsere Fruchtsaftindustrie. Die Preise? Naja, die könnten besser sein. Früher haben wir dort 3 Mark 30 pro Kilo gekriegt, heute nur 86,5 Pfennig. Das ist nicht mehr rentabel.“ Er zuckt die Achseln: „Aber das ist eben die Marktwirtschaft.“

Seine Genossenschaftler bringt diese Marktwirtschaft noch zur Verzweiflung. Im Gebüsch stehend, zählen sie die Körbe, die die als Erntehelfer engagierten tschechischen und polnischen Studenten anschleppen. „Im Oktober können wir alle nach Hause gehen“, befürchtet eine Frau. „Man sagt uns, der Betrieb solle unterteilt werden, und wir sollen uns alle mit 3.000 bis 5.000 DM einkaufen. Aber wer will denn heutzutage noch in die Obstproduktion einsteigen?“ „Wer wird auf einen Wagen aufspringen, der den Berg runterfährt?“ kommentiert einer der Männer, und die Verzweiflung steht ihm im Gesicht. „Letzte Woche“, weiß ein anderer, „gingen drei oder vier Tonnen Erdbeeren auf den Müll. Unverkäuflich. Niemand weiß, ob diese Kirschen hier“, er wühlt in der roten Pracht, „nicht auch dort landen.“

Ute Scheub

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