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„Wir untergraben unsere Position“

■ Debatte der Bundestags–Grünen über die Legitimität des Boykottaufrufs zur Volkszählung / Schily und Schoppe weitgehend isoliert / Widerspricht der Aufurf zu zivilem Ungehorsam dem „Mehrheitsprinzip“?

Aus Bonn Oliver Tolmein

Zu einer unerwartet ausführlichen und kontroversen Diskussion kam es Dienstagnachmittag auf der Sitzung der Grünen–Bundestagsfraktion. Anlaß war die in den letzten Tagen von Otto Schily geäußerte Kritik am Fraktionsaufruf zum Volkszählungsboykott, der von Waltraud Schoppe weitgehend unterstützt wurde. Am Ende der dreistündigen Debatte wurde der nur unwesentlich veränderte Aufruf des Bundeshauptausschusses der Grünen „Volkszählung 87 - Wir boykottieren“ als Fraktionsbeschluß übernommen. Bemerkenswerter als diese Bestätigung der alten Beschlußlage war die Diskussion selber. Schoppe und Schily ging es mindestens genauso um die grundsätzliche Politik der Fraktion wie um die Volkszählung. Beide forderten, daß die Grünen als parlamentarische Minderheit grundsätzlich die Beschlüsse der Mehrheit mitzutragen hätten. „Ich bin für eine grüne Politik, die eine Mehrheit erreichen will“ konkretisierte Otto Schily den Zusammenhang dieser Debatte mit der direkt nach der Wahl begonnenen „Mitte“– Diskussion. Deswegen sei es irritierend, „wie schnell sich die Fraktion hier über das Mehrheitsprinzip hinwegsetzt“. Der Parlamentarische Geschäftsführer Hubert Kleinert räumte ein, aß es ein Problem sei, wie der „Widerstand gegen die von der Mehrheit des Bundestages gefassten Beschlüsse zu legitimieren ist“. Zivilen Ungehorsam könne die grüne Fraktion niemandem vorschreiben, das bleibe eine „individuelle Gewissensentscheidung“. Dem setzte Fraktionssprecher Ebermann entgegen, daß niemand von Zwangsmaßnahmen geredet habe, sondern es um eine an sich selbstverständliche Mobilisierung gehe: „Wenn wir zu einer Demonstration aufrufen, zwingen wir auch niemanden hinzukommen, wir freuen uns aber natürlich, wenn viele da sind.“ Den Großteil der neu entflammten Diskussion um den Schutz der individuellen Entscheidungsfreiheit empfinde er als „frei erfundene Sülze“. Wahr sei allerdings, daß sich die etablierten Parteien seit Mittwoch letzter Woche auf den Grünen Boykottaufruf eingeschossen hätten und seitdem in der Partei der individuelle Charakter des zivilen Ungehorsams und dessen Ausnahmecharakter betont würde. Das genau hätten die etablierten Parteien bezweckt: „Der Protest verliert das Selbstverständliche, stattdessen müssen wir anfangen öffentlich übermäßig mit unserem Gewissen zu ringen. Da wird der Boykott zu einem individuell– ethisch–moralisch– reiligiösen Problem hochstilisiert“. Wenn die Grünen am Beispiel Volkszählung ihr Demokratieverständnis durch ein Bekenntnis zu Mehrheitsbeschlüssen des Bundestags testen ließen, sei ihr Weg zu einer gehorsamen, gesetzestreuen Partei vorgezeichnet, zumal es hier nicht einmal, und das begrüße er, um die Gewaltfrage gehe. Regula Bott wandte gegen Schoppe und Schily, die in der gesamten Diskussion weitgehend isoliert blieben, ein, daß es wenig Sinn mache, über die Gefahren der Volkszählung aufzuklären, aber nicht dafür einzutreten, daß die Leute die Konsequenzen aus dieser Aufklärung ziehen. Das kritische Resümee der Diskussion zog T. Wüppesahl aus Schleswig–Holstein: „Während die Volkszählung aufgrund des breiten Mißtrauens in der Bevölkerung gescheitert ist, untergraben wir Dummbeutel durch diesen Streit unsere eigene gute Position“.

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