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■ Ein offener Brief von Zafer Șenocak an Cem Özdemir: Türkische Nationalität nicht ethnisch oder religiös definieren„Wir dürfen nicht zum völkischen Beobachter werden“

Lieber Cem Özdemir,

in einer deutschen Tageszeitung wirst Du wie folgt zitiert: „Die Türken in Deutschland gibt es sowieso nicht.“ In dem Artikel, der die Gründung einer „Türkenpartei“ zum Thema hat, heißt es in indirekter Rede weiter: „Es handele sich um ein Gemisch unterschiedlichster ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen, unter ihnen alleine 500.000 kurdischstämmige Bürger. Özdemir: Die zwei Millionen Türken in Deutschland haben keineswegs nur gemeinsame Interessen.“ In einer auflagenstarken türkischen Zeitung werden folgende Ausführungen in Deinen Mund gelegt: „Um das blutige Kurdenproblem zu lösen, müssen die Aleviten gestärkt werden, die 30 Prozent der türkischen Bevölkerung stellen. Ein bedeutender Teil der Aleviten sind Kurden.“

Mein lieber Cem. Das mit den Zeitungen ist so eine Sache. Vielleicht wirst Du, wie so oft in letzter Zeit, sagen, das habe ich nicht so gemeint. Vielleicht stimmen diese Zitate aber auch. Solange sie von Dir nicht widerrufen werden, müssen wir davon ausgehen.

Was zum Teufel veranlaßt uns in Deutschland, denn da bist Du nicht alleine, zum „Völkischen Beobachter“ zu werden? Es ist richtig: Die Türkei ist ein Nachfolgestaat eines Vielvölkerstaates gewesen. Im modernen Nationalstaat Türkei versucht man seit siebzig Jahren, das französische Muster von der Einheit der Nation zu verwirklichen. Die türkische Nation definiert sich weder ethnisch noch religiös. Sie geht von der Gleichheit aller Bürger aus, die auf ihrem Staatsterritorium leben, unabhängig von ihrer Herkunft. Dieses Modell hat mehr als nur einige Schönheitsfehler. Denn während die türkische Mehrheit ihre Sprache und Kultur, als die einzige Sprache und Kultur der Nation, offiziell und öffentlich pflegen kann, haben es Minderheiten schwer. Vor allem die kurdische Sprache und Kultur wurden jahrzehntelang unterdrückt. Es ist ein Gebot der Stunde, daß alle Menschen, die aus der Türkei stammen, sich heute für diese Rechte einsetzen.

Wohin aber führt es, wenn türkische Nationalität heute wieder ethnisch oder religiös definiert werden soll? Von 500.000 Kurden in Deutschland ist die Rede. Das ist doch vollkommener Quatsch. Denn es gibt, wie wir alle wissen, keinen kurdischen Paß. Diese Menschen sind türkische, irakische, iranische oder auch deutsche Staatsbürger. Sie sind Türken, Iraker, Iraner oder Deutsche kurdischer Herkunft. Jedes Land, dessen Staatsbürger sie sind, sollte verpflichtet sein, ihnen ihre kulturellen Rechte zu garantieren. Doch keines dieser Länder, auch das wissen wir, wird ihnen einen kurdischen Paß schenken.

Wenn heute von 500.000 Kurden in Deutschland die Rede ist, frage ich mich, wer diese Zahl in die Welt gesetzt hat. Wie ist er bei seiner Schätzung oder Zählung mit denjenigen türkischen Staatsbürgern verfahren, die eine kurdische Mutter und einen türkischen Vater haben? Oder mit dem, dessen Großmutter Albanerin, der Großvater aber Tscherkesse war? Die Nazis hatten dafür ihre Methoden. Sie haben zum Beispiel die Gebeine des Philosophen Kant ausgegraben, um anhand seines Schädels festzustellen, ob er Arier war. Werden wir in Deutschland bald soweit sein, von Halbtürken und Viertelkurden zu sprechen? Wäre es nicht vielmehr unser Interesse, den Bürgerstaat, die pluralistische, bürgerliche Demokratie in Deutschland zu stärken, anstatt die völkischen Geister zu rufen, die dieses Land in die größte Katastrophe seiner Geschichte geführt haben?

In einem modernen, demokratischen Staat kann es nur um Bürgerrechte gehen, niemals aber um ethnische Fixierungen. Die Vorstellung von ethnisch reinen Gemeinwesen ist eine Wahnvorstellung, wofür man, das zeigen historische wie aktuelle Erfahrungen, mit besonders viel Blut bezahlt. In Deutschland sind die Bürgerrechte für Millionen von sogenannten Ausländern nicht verwirklicht. Die Türken sind in ihrer überwältigenden Mehrheit noch keine deutschen Staatsbürger. Was bringt es in einer solchen Situation, in der schon die türkischen Staatsbürger als „Türken“ ins ethnische Abseits gestellt werden, ihre multiple Identität weiter nach religiösen und ethnischen Motiven zu teilen? Ich möchte behaupten, daß die Integration, wenn überhaupt, nur dann möglich ist, wenn man von einem Nationenverständnis ausgeht, das sich bürgerlich, das heißt von den Bürgerrechten her, definiert und nicht ethnisch. Eine sich ethnisch definierende kurdische oder türkische Minderheit wird in Deutschland nicht zu integrieren sein.

Ich fürchte, daß Deine Partei, die Grünen, keinen nennenswerten Beitrag für die Bürgerrepublik Deutschland leisten werden, wenn sie das fest- und tiefsitzende völkisch-ethnische Denken im Kopf nicht aufgeben. Teile der Grünen scheinen mir hierfür anfälliger als die bürgerlichen Volksparteien in Deutschland. Auch Du, mein lieber Cem, scheinst mir zunehmend in das Fahrwasser des ethnischen Denkens zu geraten. Dies hielte ich für tragisch. Denn der Impuls für die Stärkung der bürgerlichen Demokratie in Deutschland muß vor allem von den Einwanderern kommen.

Noch ein Wort zu den Aleviten: Die Aleviten in der Türkei sind zum überwiegenden Teil ethnische Türken. Man bezeichnet sie übrigens auch als Turkmenen. Sie haben in der kosmopolitischen osmanischen Zeit die türkische Kultur und Sprache gepflegt und eine eigene Interpretation des Islam entwickelt, die sich von den arabischen oder kurdischen orthodoxen Varianten deutlich unterscheidet. Bei der Gründung der laizistischen türkischen Republik waren sie eine wichtige Stütze. Sie bilden daher, in einer Zeit verstärkter Reislamisierung der Politik, eine besonders staatstragende Schicht.

Daß es auch unter der kurdischen Bevölkerung Aleviten gibt, zeigt nur, wie töricht die ethnische Denkweise in einer Region ist, in der sich Völker und Religionen jahrtausendelang auf vielfältige Art und Weise vermischt haben. Über die Aleviten, überhaupt über die multikulturellen Aspekte der Türkei, weiß man in Deutschland wenig. Vor allem in den Medien sind viele „Kulturpfuscher“ unterwegs, die mit ihrem Halbwissen zweifelhafte Weisheiten verkünden. Zu denen solltest Du nicht zählen.

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