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„Wir bitten ums Wort“

■ Offener Brief der Moskauer Schülerzeitung 'Peremena‘ an die Berliner KollegInnen der taz

Wir geben eine Zeitung heraus. Wir sind eine Gruppe von Moskauern Schülern, die die Perestroika unterstützen und sich aktiv an ihr beteiligen möchten. Früher sagte man uns, unsere Hauptaufgabe sei es, zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen. Wir lernen gut, doch erstreckt sich unsere Bürgerpflicht schließlich nicht nur darauf. Deshalb haben wir uns entschlossen, das Wort zu ergreifen und zu sagen, was wir persönlich darüber denken, was in unserer Schule, in unserem Haus, auf unserem Hof, in unserer Stadt, in unserem Land geschieht.

Unsere Zeitung nannten wir 'Peremena‘. Im Russischen bedeutet das Wort nicht nur die Pause zwischen den Unterrichtsstunden, sondern auch Veränderung, also alles, was sich in unserer Gesellschaft verändert. Seinem Inhalt nach kommt es dem Wort Perestroika sehr nahe. Als wir uns zur Herausgabe von 'Peremena‘ entschlossen, hatten wir keineswegs die Absicht, besonders originell zu sein, wie mancher meint. Im Gegenteil, aufmerksam studieren wir die Jugendpresse des Landes und lernen bei den richtigen Journalisten. Doch würden wir, zumindest einige von uns, selber gern Journalisten werden. Deshalb betrachten wir die Erörterung der Probleme in der Presse nicht als Leser, sondern als Teilnehmer an der Diskussion, und sind keineswegs immer einer Meinung mit den erfahrenen Journalisten. Gerade ihre Berufserfahrung führt sie auch hinters Licht. Sie meinen, daß es Themen gibt, die ein Schüler kaum bewältigen kann. Und das ist ihr Irrtum. Wir können über alles sprechen. Über Rock und Politik, über Schuldemokratie und nichtformelle Vereinigungen, über Sozialismus und Kapitalismus, über Sex und Aids.

Wir haben nicht bei Null angefangen. Viele von uns können ganz gut Französisch, Deutsch oder Englisch. Wir hatten angefangen, Schülerzeitungen wie in England die 'Early Times‘ oder in der BRD das 'Bubbelgum‘ auszuwerten. Inzwischen steht 'Peremena‘ in der gleichen Reihe.

Wie unsere Altersgefährten im Ausland machen auch wir unsere Zeitung selber. Dazu müßten wir die Arbeit mit dem Computer und auch die Anfertigung eines Layouts lernen. Bei der Herausgabe der ersten Nummer half uns die Jugendredaktion der Presseagentur 'Nowosti‘. In West-Berlin erinnert man sich sicher an Andrej Loskutow, den Chef dieser Redaktion.

Er hatte die Idee für die Funkbrücke „West-Berlin hört Moskau, Moskau hört West-Berlin“. Das war im August vergangenen Jahres. Wir saßen damals vor den Geräten und hörten, wie „SFBeat“ mit unserem Jugendsender „Junost“ diskutierte. Wir achten Andrej sehr, doch unsere Zeitung ist uns näher. Wir haben mit ihm durchaus größere Differenzen. Ungeachtet dessen, daß die Computer ihm gehören, bleiben unsere Ideen doch unser Eigentum.

Welches sind nun diese Ideen? Blättern wir einmal gemeinsam eine Ausgabe unserer Zeitung durch.

Serjosha Mitin stellt die Verfahrensweise der Miliz in Frage, die einen Teilnehmer eines nichtgenehmigten Meetings mit einer Strafe von 500 Rubeln belegt hat. Serjosha meint, daß dieser Beschluß nicht so sehr von Tatsachen getragen war, als von den politischen Ansichten der Diener der Themis (Göttin des Rechts, d.Red). Der Prozeß in dieser Angelegenheit wurde von drei Richtern geprüft, und alle drei kamen zu unterschiedlichen Urteilen. Serjosha ist keineswegs gegen die Miliz. Er billigt ihre Handlungen, als zum Beispiel drei Punks bestraft wurden, weil sie (bei uns ist das verboten) in der Metro geraucht haben und die Milizionäre, als sie von diesen darauf aufmerksam gemacht worden sind, unflätig beschimpften.

Stas Pawlow ist der Meinung, daß es notwendig ist, jeden einzelnen, der in Afghanistan gefallen ist, namentlich zu nennen. Die Zeitung veröffentlicht die Nummer des Bankkontos, auf das man Geld für den Bau eines Rehabilitationszentrums der im Krieg Verkrüppelten einzahlen kann.

Serjosha Dmitriew kann nicht verstehen, warum er, nachdem er in der Schule den Beruf eines Autoschlossers erlernt hat, bei der Armee zu den Nachrichtentruppen einberufen wird, obwohl gleichzeitig Jungen in die Kraftfahrzeugbataillone eingetragen wurden. Einer der Jungen, der sich hinter dem Pseudonym „der Karierte“ verbirgt, empört sich, warum man sein Mädchen, das in eine andere Schule geht, nicht zu ihm in die Schule gelassen hat. „Als ob die Schule eine geschlossene Anstalt wäre“, bemerkt er giftig.

Mischa Sergejew analysiert den Mechanismus der innerschulischen Demokratie. „Obwohl dieser aus unterschiedlichen Teilen besteht, wirkt er doch als einheitlicher hämmernder Körper, unfähig, seine Form und Funktion zu ändern.“ Und er endet ziemlich revolutionär: „Es lebe die Abschaffung der Schulbeurteilungen.“

'Peremena‘ sieht sich auch in „fremden Taschen“ um. Man untersucht, wie die Schüler etwas verdienen und wofür sie ihr Geld ausgeben. Von 35 befragten Schülern erhält die Hälfte Taschengeld von den Eltern. Sie bekommen nicht viel, etwas für Eis und Kino. Sieben Schüler arbeiten vor dem Unterricht. Sie tragen Post aus, zwei Mädchen machen in einem Laden sauber, eins hilft der Mutter beim Nähen und erhält von ihr dafür zehn Prozent vom Gewinn. Die Mädhen brauchen ihr Geld im Wesentlichen für Kosmetik, die Jungen für Zigaretten und für Mädchen.

Meine Klassenkameradin Olja Balatowskaja schreibt über einen Selbstmordversuch ihrer Freudnin. „Viele sehen in ihr eine Verrückte“, schreibt sie. „Ich bin überzeugt, daß meine Freundin nicht verrückt ist und daß man natürlich mit ihr umgehen muß. Das wird ihr helfen, ihre Komplexe loszuwerden.“

So sieht also unsere 'Peremena‘ aus. Ob sie überleben, der Konkurrenz standhalten, die Unterstützung der Schüler erhalten wird? Wir wissen es nicht. Für uns ist 'Peremena‘ aber etwas für immer.

Pjotr Kaimakow

P.S.: Wie die tageszeitung haben auch wir keinen Chefredakteur. Und wer sagt überhaupt, daß man unbedingt einen haben muß?

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