Wir Kinder der 68er: Die unmögliche Rebellion
Ihre Augen leuchten, wenn sie von der Revolution erzählen. Bügerlich erzogen haben uns die 68er trotzdem. Was bleibt uns, ihren Töchtern und Söhnen, zur Abgrenzung?
Dass Nachmachen irgendwie uncool ist, haben wir schon in der Sandkiste gelernt. In den gut behüteten Kindergärten, in die uns unsere studentenbewegten Akademikereltern jeden Morgen karrten, krähte man, wenn jemand seine Burg genau so bauen wollte wie ein anderer, das Lied vom "Nachmacher X". Der steht in der Ecke und traut sich nix. So einer, war allen sofort klar, durfte man nie werden. Und klopfte weiter mit der Schaufel im Takt auf sein Eimerchen.
Aus dieser Zeit kenne ich nur noch wenige, aber auch die Grundschulkinder und Gymnasiasten (auf andere Schulen sind wir nicht gegangen) sind heute zu ein und derselben Spezies herangewachsen: Nachmacher, inzwischen Mitte zwanzig. "So kannst du uns nicht nennen", empört sich Philipp, mein Abiturfreund, als ich das sage. Er stellt seine Bionade ab und pustet den Rauch seiner Selbstgedrehten in einem großen Schwall auf meine Notizzettel, um das vernichtende Wort zu vernebeln. "Wir leben halt nur ähnlich, wir wollen eben das Gleiche. Und überhaupt: Was ist, wenn die, die wir nachmachen, die mit Abstand nettesten Menschen sind, die wir in unserem Leben kennen gelernt haben?"
Unsere Eltern sind nett. Sie sind mehr als nett, sie sind uns richtig sympathisch. Wir finden sie witzig. Und irgendwie interessant. Abgesehen von familienspezifischen Problemen halten wir unsere Mütter und Väter durch die Bank weg für unglaublich in Ordnung.
Unsere süßen Eltern
Wir können aber auch gar nicht anders, sie lassen uns keine Wahl. Liberal, klug und unkompliziert sind sie und auch noch immer für uns da, ohne uns zu bevormunden. Wir finden sie süß, wenn sie neu gelernt haben, wie man uns per Skype einen Winke-Smiley schickt, und sie leihen uns ihre alten Bücher aus, die wir total spannend finden.
Mit ihnen können wir bei gutem Rotwein versacken, sie haben uns als Erste über Betäubungsmittelverstöße und Verhütung erzählt und mit uns fürs Abi gelernt. Und allein sie konnten uns nach dem Zusammenbruch unserer ersten Liebe glaubhaft wahrmachen, dass das Leben weiterginge.
Eigentlich war und ist das ja alles prima. Alle mögen sich. Denn auch für unsere Eltern hat sich das ganze Vorlesen und der Kauf naturtrüber Biosäfte, das Reisen- und Klavierstundenbezahlen gelohnt. Unsere Eltern finden uns auch klasse, interessiert, weltoffen und freundlich, wie wir sind. Die Grundlage dieser Harmonie zwischen Eltern und Kindern, die nebenbei auch noch Freunde sind, ist die der grundlegenden Ähnlichkeit der Lebensstile. Wären sie wir, sie lebten heute kaum anders. Wären wir sie, wir würden nicht anders leben. Was uns trennt, könnte man sagen, ist nur der Grad der Fingerfertigkeit beim SMS-Schreiben. Und das bisschen Lebenserfahrung.
Heute, an einem dieser verregneten Hamburger Sonntage - Philipp und ich verbringen diese Nachmittage oft gemeinsam -, schiebt er mir sein Diplomzeugnis über den Tisch. Glänzende Noten, wie vor ein paar Jahren auf seinem Abiturzeugnis, als er genau hier vor mir saß. Nur, dass er mir damals noch Fotos zeigte, von seiner Mutter, in ihrer Studentenzeit. Magische Bilder waren das für uns, mit vielen verplanten Hippie-Menschen drauf, die in der WG-Badewanne Bier brauten. Wie viele seiner Sätze begannen damals mit "So will ich auch mal"? Und ich lächelte dann und dachte, ja, jetzt geht das für uns auch los. Aber irgendwie wirkten unsere WG-Fotos der folgenden Jahre trotz Kaffeerändern und Aschespuren am Rand nie so magisch. Warum nur?
Wo unsere uns heute so ähnelnden Eltern gestern waren, waren wir nie. Die Geschichte ihres Werdens ist eine völlig andere als unsere. Und das merkt man. Da sind nämlich nicht nur die Fotos, da ist auch noch dieses verschmitzte, auf merkwürdige Art weise wirkende Lächeln auf den Gesichtern unserer Mütter und Väter. Das legen sie automatisch auf, wenn sie unaufgeregt und fast bescheiden den einen oder anderen Schwank von ihren wilden Studentenzeiten erzählen. Vom Rudi und von den Manifesten der gefühlten zwei Millionen Studentengruppen, die es damals so gab, an der Uni, die wir jetzt besuchen und an der nun wirklich rein gar nichts mehr geht. Wir lauschen bei solchen Erzählstunden interessiert den elendig langen Revoluzzer-Vokabularien und lachen mit, wenn es uns passend vorkommt. Am Ende schütteln unsere Väter dann jedes Mal ihre graumelierten Köpfe und lächeln dieses Lächeln. Und wir wissen, das bedeutet zweierlei: "Was waren wir für Knallköpfe damals" und "Es war schon gut, dass wir dabei waren".
Dabei, das waren wir leider nie. Wir sind die, die nach dem "Dabei" kamen. Nach der einmaligen Chance, dabei zu sein, bei der ultimativen Umwälzung. Zwar suchten auch wir uns unsere Studentenbuden, schliefen bis nachmittags und probierten die eine oder andere Droge aus. Wir trugen sogar einmal kurz ein Transparent, auf dem stand "Ein Bush braucht Wasser, kein Öl", durch die Hauptstadt. Neuland betraten wir damit jedoch nicht. Neuland betreten wir eigentlich nie. Wir wissen gar nicht, wo das ist, dieses unberührte Terrain, auf dem jeder Schritt ein nie getaner, eine Angst und Triumph einflößende Angelegenheit ist. So zumindest stellen wir uns das vor. "Das Gute am Jungsein ist, dass alle gegen dich sind" könnte das Motto unserer Elterngeneration sein, die sich trotz all dem für uns so spaßig und wild Erscheinenden der 68er ihren Weg in die Eigenständigkeit gegen den Willen ihrer spießigen, Nazi-verstrahlten oder langweiligen Eltern hart erkämpfen mussten. Was aber, wenn niemand je gegen einen war? Uns verfolgt die Unfähigkeit der Ab- oder Auflehnung unser ganzes junges Leben lang. Eine Rebellion gegen unsere Eltern war nicht nötig, aber eben auch nie möglich. Klar könnten wir uns in die so oft besungene Spaßgesellschaft stürzen. Doch allein aus ästhetischen Gründen kennt auch unsere Trash-Affinität klare Grenzen; mehr als ein paar Minuten bildungsferner Sendeformate können wir am Stück nicht ertragen. Klar könnten wir Steine schmeißen und allesamt "antideutsch" werden. Aber dass die linke Radikalität ausprobiert und gescheitert ist, dass alternativ keine Alternative ist, konnten wir nie ernsthaft anzweifeln.
Was bleibt, wäre die Palette der Weltreligionen, für die sind wir allerdings viel zu rational geraten. Streng genommen bliebe als Lebensstil nur das gemeine Spießertum, junges Heiraten und braves Glück im Reihenhaus. Diese Tendenz gibt es auch, gerade von den Sprösslingen der extrem schmerzfrei rückwärts romantisierenden 68er-Eltern. Alle anderen Auflehnungsversuche stellten für uns nur gekünstelte Verirrung dar, nach denen wir ebenso schlau wie vorher wären.
Philipp dekliniert diese Unmöglichkeiten der Abgrenzung nüchtern durch. "Na ja und Beruf ja eh nich, ne." Auf einmal erscheint mir sein Zeugnis zwischen uns, das mich eben noch zu Lobeshymnen animierte, wie ein graues Blatt Papier. Philipp wird Psychologe. Sein Vater ist Lehrer und seine Mutter ist Ärztin. Keiner von uns fällt wirklich weit vom Stamm. Nach eignen Regeln der Wahrscheinlichkeit ergibt das Elternpaar Wirtschaftsprofessor/Grundschullehrerin einen PR-Berater, Journalistin/Ethnologe eine Sozialpädagogin, und Kinder in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wechseln nach ein paar Jahren von der Etage der Kinderbetreuung in die Redaktionsräume.
Nicht, dass wir uns für solche Karrieren nicht anstrengen bräuchten. Wir erarbeiten uns diese Positionen mit viel Engagement, und der Sarkasmus, mit dem wir über unsere Chancen sprechen, zeigt, dass wir um die Möglichkeit des Scheiterns wissen. Sie allerdings nicht ernsthaft befürchten. Ein "Erkämpfen" im klassischen Sinne des Wortes sind unsere Werdegänge nicht.
Wir oberschlauen Kinder
Aus alldem ergibt sich eine umfassende Oberschläue, was unsere Selbstkonstruktionen betrifft. Dabei wären wir manchmal gerne dümmer, vielleicht sogar mal richtig naiv gewesen. Denn Erwartbarkeit ist eine Bremse. Im Sinne von Sicherheit und Geborgenheit ist sie sicherlich ein Privileg und wir sind uns dessen auch sehr bewusst. Eine klassische Abnabelung von unseren Eltern, die uns so schlau machten, wäre aber nicht nur strategisch, sondern auch emotional ein Eigentor.
Unsere Eltern gehörten sicher nicht zu denen, die 68 als die Spitze des Heroismus mythologisierten. Trotzdem haben wir die Geschichte von jeher so verstanden, dass das wahre eigene Leben nur durch einen großen Rebellionsschlag erreicht werden kann. Selbst, wenn manche zugeben, dass ihre Proteste damals ein theatralischer Umweg zum letztendlichen Erfüllen der Wünsche ihrer Eltern waren, für uns ist das damalige Geschehen ein unerreichbarer Neidträger. Das ganze Gegruschel und Fotos-auf-geklont-wirkende-Internetseiten-Stellen, die eine total einzigartige Identität widerspiegeln sollen, wirkt daraufhin, je verregneter sich das Sonntagsgefühl gestaltet, gegen die magische Jahreszahl unserer Eltern wie eine bodenlose Peinlichkeit.
Das Schweigen hat sich zwischen Philipp und mir ausgebreitet. "Trotz allem ist es doch aber ein schönes Leben, was wir da neu nachleben?", frage ich ihn zaghaft. "Das einzig authentische zumindest, das einzige, was zu uns passt?" "Es beschwert sich ja auch niemand", antwortet er, "Wir wissen ja, dass es uns eigentlich verdammt gut geht. Wir wurden ja schließlich auch nicht verzogen." Mein Handy piept. Eine SMS von meiner Mutter: "Geh nachher zum Poweryoga. Kommst du mit? Hilft gegen den RegenGruss, M."
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