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Willy Claes, die verfolgte Unschuld

Der Nato-Generalsekretär fühlt sich unschuldig. Heute will er noch einmal vor dem belgischen Parlament eine Anklage verhindern – darüber aber wird politisch entschieden  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Willy Claes wehrt sich gegen ein politisches Komplott. Die Christliche Volkspartei CVP, stärkste politische Kraft in Belgien, wolle ihn prügeln, um den sozialistischen Koalitionspartner zu schwächen, wetterte Claes in einem Zeitungsinterview. Nachdem der zwölfköpfige Parlamentsausschuß am letzten Freitag beschloß, den 150 Abgeordneten die Anklageerhebung zu empfehlen, fühlt sich Claes betrogen. Mindestens ein Christsozialer muß im Ausschuß gegen ihn gestimmt haben – für Claes ein Verräter an der Viererkoalition, die seit Jahrzehnten regiert.

Damit ist auch die Verteidigungsstrategie klar, mit der Willy Claes heute das Parlament davon abhalten will, ihn der Justiz zu übergeben. Nicht um Schuld geht es, sondern um die Frage, ob die Abgeordneten es wagen werden, den einzigen belgischen Politiker an der Spitze einer internationalen Organisation zu stürzen. „Eine Anklage wäre das Ende“, hat Claes bereits angekündigt, aber er hoffe nach wie vor, „daß ich mich auf meine politischen Kameraden verlassen kann“.

Aber viel Hoffnung braucht er nicht zu haben. Die Parteichefs haben für die Abstimmung über das Schicksal des Nato-Generalsekretärs den Fraktionszwang aufgehoben, jeder soll nach seinem Gewissen entscheiden, in geheimer Abstimmung. Claes hatte darum gebeten, sich vor der Entscheidung noch einmal verteidigen zu dürfen. Er will den Abgeordneten den Ernst der Lage einhämmern, neue Erkenntnisse werden sie kaum von ihm erwarten dürfen.

Nach Ansicht der Justiz reicht das Dossier des Staatsanwaltes für eine Anklageerhebung aus. Längst ist belegt, daß 1988, als Claes Wirtschaftsminister war, im Zusammenhang mit dem Kauf von 46 Armeehubschraubern im Wert von 600 Millionen Mark bei der italienischen Rüstungsfirma Agusta Geld geflossen ist. 2,5 Millionen Mark fanden die Ermittler auf Konten von Claes flämischen Sozialisten, sein Bürochef wurde verhaftet. Und als weitere Millionen gefunden wurden, war auch klar, daß die französische Firma Dassault großzügig gespendet hatte, um den Auftrag für elektronische Abwehrsysteme für F-16-Flugzeuge zu bekommen.

Eine Korona von Politikern und Mitarbeitern rund um den damaligen Wirtschaftsminister hat alles zugegeben. Nur der Mann in der Mitte, Willy Claes, will von alledem nichts gewußt haben. An ihm, auf dessen Entscheidung es bei der Auftragserteilung an Agusta und Dassault ankam, soll alles vorbeigeflossen sein.

Aber in Belgien liegt es nicht an der Justiz, ob hohe Politiker sich verantworten müssen. Die Anklage gegen einen Minister kann nur das Parlament beschließen. Dahinter steht die alte Auffassung von Staatsräson, nach der es den Regierenden gestattet sein muß, zum Wohl des Volkes auch einmal Gesetze zu übertreten. In diesem Sinne hat Claes nicht ganz unrecht, wenn er sich unschuldig fühlt. Wenn er die Spenden gebilligt hat, dann schließlich nicht für sich, sondern für seine Partei. Und ohne Parteien funktioniert die Politik nun einmal nicht.

Mit diesem Verständnis von Schuld und Unschuld steht Claes nicht allein. Das Parlament wird heute auch über eine Ausweitung der Anklage gegen Guy Coäme entscheiden. Coäme war damals Verteidigungsminister, ihm wirft der Staatsanwalt so ziemlich dasselbe vor wie Claes. Doch anders als beim Nato-Generalsekretär hat der Parlamentsausschuß empfohlen, Coäme nicht weiter verfolgen zu lassen. Coäme war sofort nach Bekanntwerden der Affäre von allen Ämtern zurückgetreten.

Es gehört zu den ungeschriebenen Spielregeln der belgischen Viererkoalition aus zwei flämischen und zwei wallonischen Parteien, daß man sich soweit als möglich arrangiert und gegenseitig deckt. Das ist nicht unwesentlich für die politische Stabilität des Landes, das ständig in der Gefahr lebt, auseinanderzubrechen. Der Dauerkonflikt zwischen dem französischsprachigen Süden und dem flämischen Norden hat schon bei banaleren Anlässen zu schweren Regierungskrisen geführt.

Willy Claes hat sich mit seinen Ausfällen gegen die Christliche Volkspartei keinen Gefallen getan. Er braucht ihre Stimmen. Offensichtlich wollte er eine Solidarität einfordern, die er selbst längst verletzt hat. Mit seiner hartnäckigen Weigerung zurückzutreten hat er eine kleine belgische Korruptionsaffäre ins unangenehm helle Licht der internationalen Öffentlichkeit gezerrt. Die Abgeordneten wissen, daß sie nicht nur über den Nato-Generalsekretär entscheiden, sondern über das Bild Belgiens im Ausland. Es sieht nicht gut aus für Willy Claes.

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