■ Querbild: Willkommen im Tollhaus
Kindheit ist grausam, zumindest wenn man eine dicke Brille tragen muß, klein und häßlich ist, und zu allem Überfluß auch nicht besonders intelligent. Dem Außenseiter fliegen nicht irgendwann alle Herzen im Sturm zu, keinesfalls müssen all die piesackenden und hänselnden Altersgenossen irgendwann ihre Verworfenheit einsehen und reumütig in der Ecke stehen, auch die Rache der Eierköpfe ist nicht mehr als eine Hollywoodphantasie. Das zu zeigen ist das Anliegen von Willkommen im Tollhaus, und diesem Anliegen wird Regisseur Todd Solondz vollauf gerecht. Mit seiner Heldin Dawn Wiener hat er eine solche Außenseiterin geschaffen, der es ernsthaft an leinwandtauglichen, positiven Merkmalen mangelt und die ein Martyrium durchleidet, das sich gewaschen hat.
Der Anfang gibt die Tonart an. Dawn steht mit einem Tablett im Speiseraum und sucht einen Platz. Das ist nicht so leicht. Wann immer sie sich setzen will, kommt ihr schnell noch ein anderer zuvor. Sie ist nicht wohlgelitten. Als sie endlich einen Platz gefunden hat, wird ihr dieser nur mit einem mürrischen „Wenn's sein muß“ gewährt. Und kaum hat sie die Gabel gehoben, wird sie von einer rhythmisch „lesbo, lesbo“ skandierenden Gruppe fröhlicher junger Mädchen umringt. Das ist Dawn Wieners Alltag. Todd Solondz hat aus seinem Film eine meisterhafte schwarze Komödie gemacht. Nahezu jede Szene steigert er in eine Katastrophe. Einmal bewahrt Dawn einen Jungen vor Prügel und erntet als Dank ein saftiges „Verpiß dich, Wienerdog“. Amerikanische Werte wie die Integrationskraft der Familie oder die Möglichkeit, sein Glück selbst zu bestimmen, gibt er der Lächerlichkeit preis. Selbst in ihrer eigenen Familie ist Dawn mehr geduldet als angenommen. So soll sie in einer grotesken Zeremonie gezwungen werden, zu erklären, daß sie ihre Schwester liebt. Während sie sich standhaft weigert, machen sich die Geschwister über ihren Nachtisch her. Trotz allem ist Dawn keineswegs durch und durch symphatisch. Solondz gesteht ihr ihre negativen Seiten zu wie jedem anderen Teenager auch und erhält ihr auf diese Weise ihre Würde. Der Verzicht auf vorschnelle Identifikationsangebote macht den Blick frei für ein ganz normales Mädchen, die schlicht unter ungünstigen Voraussetzungen zu leiden hat. Sie bekommt keine Chance und sie nutzt sie auch nicht. Sven Sonne Neues Cinema
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