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■ Zum Strafmaß bei den Memminger ProzessenWiedergutmachung ist das Stichwort

Die „Memminger Hexenprozesse“ haben in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte traurige Berühmtheit erlangt. Hunderte von Frauen mußten in entwürdigender Prozedur ihre Entscheidung für eine Abtreibung rechtfertigen und oft bis in die intimsten Details ihre Gründe darlegen. Nachträglich maßten sich Richter an zu entscheiden, ob sich die Frauen in einer den Abbruch rechtfertigenden Notlage befunden hatten oder nicht. Der Frauenarzt Horst Theissen wurde unnachgiebig verfolgt und verurteilt, seine berufliche und persönliche Existenz schwer beschädigt.

Das groteske Schauspiel rief weit über linke und liberale Kreise hinaus Empörung und Kritik hervor. Und es beeinflußte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Neuregelung des Paragraphen 218 entscheidend. Immerhin konnte sich Karlsruhe in einem ansonsten von ideologischen Unsäglichkeiten und juristischen Widersprüchen durchsetzten Urteil dazu durchringen, das Letztentscheidungsrecht von Frauen über einen Schwangerschaftsabbruch anzuerkennen – wenn auch nur innerhalb der ersten drei Monate und nach Zwangsberatung. Die im alten Paragraph 218 vorgeschriebene Indikationsfeststellung durch Dritte – und damit die gerichtliche Überprüfbarkeit, also die Grundlage der Memminger Urteile – ist endlich abgeschafft.

Was bedeutet dies für die heute beginnende, „letzte Runde“ im Prozeß gegen Horst Theissen? Vor dem Augsburger Landgericht geht es nach Einspruch des Bundesgerichtshofes nochmals um das Strafmaß. Und hier kann nach der gültigen Rechtslage durch das Karlsruher Urteil eben nicht mehr herangezogen werden, daß Theissen Schwangerschaftsabbrüche ohne Vorlage von Indikationen vorgenommen hatte. Allenfalls für die Verletzung der weiterhin bestehenden Beratungspflicht könnte man ihm eine Geldstrafe verpassen.

Das Augsburger Gericht ist aufgefordert, rechtsstaatliche Liberalität zu praktizieren und die Fähigkeit zur selbstkritischen Einsicht auch der bayerischen Justiz unter Beweis zu stellen. Die Memminger Urteile waren Entgleisungen – die allerdings möglich waren auf der Basis einer immer schon frauenfeindlichen und seit Jahrzehnten umstrittenen Rechtslage, die jetzt wenigstens in einem Punkt zugunsten der Frauen revidiert wurde. Der Arzt Horst Theissen selbst war und ist bestraft genug. Wiedergutmachung ist im Grunde das Stichwort. Helga Lukoschat

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