: Wiederentdeckte Aktualität
betr.: „Dem Osten gehen die Ärzte aus“, „Polikliniken, neu“, taz vom 8. 2. 02
Als Begründung für den Befehl Nr. 272, der am 11. 12. 1947 von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) erlassen wurde, wurde „die Errichtung von Ambulanzen und Polikliniken zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung“ angegeben. Hierin liegt die wiederentdeckte Aktualität des Modells, denn unter den Bedingungen von Ärztemangel und begrenzten finanziellen Ressourcen für medizinisch-technische Ausrüstung kann auf diese Art eine qualitativ zufrieden stellende medizinische Versorgung der Bevölkerung erreicht werden – zumindest in der Theorie.
Die zu Grunde liegenden Konfliktlinien sind älteren Datums; sie verweisen auf Grundsatzfragen der Organisation medizinischer „Dienstleistung“ in der Gesellschaft, die die Reformbemühung im Gesundheitswesen auch heute noch prägen. Eine spezifisch deutsche Komponente dagegen ist die Tatsache, dass der Poliklinikgedanke geradezu den Interessenkonflikt zwischen Ärzten und Krankenkassen verkörpert.
Die Idee einer kasseneigenen Poliklinik, des so genannten Ambulatoriums, verdankt ihre Realisierung in Deutschland nämlich der heftigen Auseinandersetzung zwischen Ärzte- und Kassenverbänden um einen neuen Tarifvertrag während der Inflationszeit Anfang der 1920er-Jahre. Als „Ärztestreik“ von 1923 in die Medizingeschichte eingegangen ist die Aktion, in der die Kassenärzte die Krankenscheine ihrer Patienten nicht mehr akzeptierten und stattdessen die bare Bezahlung ihrer Bemühungen verlangten. In dieser Situation gründeten die Krankenkassen, die zur Gewährleistung der medizinischen Versorgung ihrer Mitglieder verpflichtet waren, eigene „Behandlungsinstitute“, in denen angestellte ÄrztInnen arbeiteten.
Auf Grund ministerieller Intervention konnte dieser Konflikt zwar schnell beigelegt werden, aber zum Verdruss der Ärzteverbände, die nun wieder in geregelten Vertragsbeziehungen mit den Kassen standen, blieben die bereits errichteten Polikliniken bestehen. Die Kassen lehnten die Abschaffung ihrer technisch hochwertig ausgerüsteten und von den Versicherten gut angenommenen Ambulatorien ab. Erst mit der gewaltsamen Zerstörung sämtlicher Kasseneinrichtungen durch die Nationalsozialisten 1933/34 wurden auch die ersten kasseneigenen Polikliniken aus der Welt geschafft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen besonders im Gebiet der sowjetischen Besatzungszone mit ihrem Ärztemangel Verhältnisse vor, die die Idee poliklinischer Versorgung begünstigten. Die Tatsache, dass es dann ein sowjetischer Befehl war, der die Realisierung der poliklinischen Einrichtungen auf dem Gebiet der späteren DDR anordnete, sollte nicht überbewertet werden.
Die konzeptionelle Mitarbeit von ehemaligen Weimarer (Gesundheits-)Politikern an der inhaltlichen Orientierung wichtiger SMAD-Befehle wird von verschiedenen Seiten mit unterschiedlichen Interessenlagen zwar gern bestritten, ist aber durch archivalische Quellen ausreichend belegt.
Der Hinweis auf „sowjetische Urheber“ sollte in erster Linie der beabsichtigten Diskreditierung dieses Konzeptes dienen, zumal in der ersten Nachkriegszeit auch in den Westzonen über eine grundlegende Umorganisation des Gesundheitswesens und der Sozialversicherung nachgedacht wurde.
GABRIELE MOSER, Greifswald/Freiburg
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