Die Frühlings-Glosse: Wieder mal voll Scheiße
■ Stadtmusikanten – die bremische Lebenslüge
Mild senkt sich der Maienabend über das Land. Die Drossel singt in der Kastanie wie jeden Abend den gleichen Instrumentalhit, und der Hund des Nachbarn läuft mit einer dicken Ratte im Maul über die Terrasse. Ach ja, Regionalfernsehen einschalten.
Nur wenige Sekunden später. Sechs Handflächen werden gleichzeitig an sechs Ohren gepreßt. Haake-Beck-Werbung. Eine Stimme, häßlich knödelnd wie der Anrufbeantworter eines Sonnenstudio-Besitzers: „Die Landschaft, die Menschen. Haake-Beck ist ihr Bier. Frisch gebraut aus dem Besten, gut gebraut und von hier. Ja, das ist Haake-Beck, das ist unser Bier.“
Rosi eilt aus der Stube. Denn erstens ist es nicht ihr Bier, und zweitens fürchtet sie um das ungeborene Leben, das sie in sich trägt. Angst und Schrecken verbreitet die Humpen-Hymne des Turnhosen-Medici Josef Hattig im Hause. Auch die Drossel draußen in der Kastanie ist verstummt. Obwohl auch sie „richtig gut und von hier“ ist.
Jürgen meint ja, Hattig hätte diesen Horror-Fetzer selbst komponiert und getextet: „Die Beatles, die haben ja auch unter LSD-Einfluß geschrieben.“ Es muß so sein. Denn der Bierkasten-Imperator hat ja auch seinen kreativen Einfluß auf die Schlüsselloch-Werbekampagne der Stadt Bremen geltend gemacht und da mitgestaltet. Jetzt lachen alle über die Anzeigen.
„Schade, daß es immer voll Scheiße ist, wenn Bremen was macht“, sagt Jürgen und kratzt die Pelle von der Teewurst aus. Man muß ihm recht geben, denn im gleichen Augenblick läuft auch noch die Bremerland-Reklame „mit den fröhlichen bunten Punkten: Damit gelingt einfach alles“.
„Immerhin soll Bremen doch jetzt mit den Stadtmusikanten groß rauskommen“, sagt Rosi, die wieder in die Stube kommt, weil sonst ihr Gemüseschaschlik kalt wird. Aber Jürgen macht nur sein oberschlaues Gesicht und holt Grimms Märchenbuch heraus. „Der Esel machte sich auf den Weg nach Bremen ...“, liest Jürgen vor. „Und?“ fragt Rosi schnippisch. „Sie konnten aber Bremen in einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten ...“, liest Jürgen weiter vor. „Sehr interessant“, sagt Rosi spitz. „Naja“, meint Jürgen, „die haben ja da in dem Räuberhaus übernachtet.“ „Das ist allgemein bekannt“, säuselt Rosi.
„Aber was nicht bekannt ist“, triumphiert Jürgen, „das ist die Tatsache, daß sie dort geblieben sind und nicht bis nach Bremen gekommen sind.“ Und er liest vor: „Den Musikanten gefiel es so wohl darin, daß sie nicht wieder herauswollten. Schluß.“
„Du meinst, die Bremer Stadtmusikanten sind nie in Bremen gewesen?“ Rosi schluckt. „Demnach nicht“, grinst Jürgen. „Lebenslüge nennt man das wohl.“ „Was soll's“, winkt Rosi ab, „soll Bremen doch mit einem Schwindel Werbung machen – die Leute vom Loch Ness sind ja auch weltberühmt geworden mit etwas, das es nicht gibt.“
Lutz Wetze/ Foto: N. Wolff
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