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Archiv-Artikel

Wieder anerkannt

Erstmals seit langem gehen bei einer Schach-Weltmeisterschaft auch die besten Spieler ans Brett

BERLIN taz ■ Die Schach-Welt ist nach zwölf Jahren der Spaltung endlich wieder auf dem Weg, nur einen König zu bekommen. Die WM des Schach-Weltverbandes Fide im argentinischen San Luis bringt diesmal fast alle Asse ans Brett. Die Ungarin Judit Polgar, einzige Frau im achtköpfigen Feld, bezeichnet daher das Mammutturnier über 14 Runden als „historisch. Der Weltmeister wird wieder als solcher anerkannt.“ Der Russe Alexander Morosewitsch nennt den mit einer Million US-Dollar dotierten Wettbewerb einen „großen Schritt auf dem Weg aus dem augenblicklichen Chaos heraus“.

Der neue Fide-Weltmeister, der am 16. Oktober das Zepter übernimmt, entspringt diesmal nicht einer Lotterie aus verkürzter Bedenkzeit und 128 Teilnehmern im K.-o.-System, die das Gros der Top-Großmeister boykottiert hatte. Fide-Präsident Kirsan Iljumschinow hatte nach jahrelanger harscher Kritik ein Einsehen. Zudem überraschte das Oberhaupt der russischen Provinz Kalmückien vor wenigen Tagen mit einer Rolle rückwärts: Die beiden gemeinsam in der Weltrangliste führenden Viswanathan Anand (Indien) und Wesselin Topalow (Bulgarien), Peter Leko (Ungarn/Platz 3), Peter Swidler (Russland/6), Judit Polgar (7), Michael Adams (England/12), Morosewitsch (13) und der lediglich an Position 34 geführte amtierende Fide-Weltmeister Rustam Kasimdschanow (Usbekistan) mussten ursprünglich in ihren Verträgen unterschreiben, dass sie nur bei der Fide um die WM spielen.

Vergangene Woche pochte Iljumschinow zwar in einem Interview mit dem russischen Sport-Express erneut darauf, dass nur der Weltverband das Recht an der WM besitze – im nächsten Atemzug schob der Fide-Boss aber nach, dass der einzige „legale Weltmeister von San Luis“ durchaus an ein Match gegen Wladimir Kramnik „denken“ dürfe. Einzige Bedingung: Der Russe, der vor fünf Jahren den sich seit 1993 selbst vermarktenden Weltmeister Garri Kasparow bezwungen hatte, müsse „zwei Millionen Dollar durch einen attraktiven WM-Sponsor“ einbringen.

Der Hintergrund der Kehrtwende des Kalmücken um 180 Grad erfolgte aus nüchternem Kalkül: Momentan braucht der Sieger von Argentinien den Konkurrenz-Weltmeister wahrlich nicht zu fürchten. Kramnik baute seit seinem Triumph über Kasparow immer mehr ab. Selbst Platz fünf wird der 30-Jährige vom Schwarzen Meer in der nächsten Weltrangliste kaum mehr verteidigen können. Gegen Anand oder Topalow dürfte Kramnik chancenlos sein. Auch der Weltranglistendritte Leko würde sich kaum noch einmal eine 7:6-Führung – so wie im Vorjahr bei der WM im schweizerischen Brissago – in der letzten Partie von Kramnik entreißen lassen. Bei einem Erfolg des Ungarn stünde ohnehin eine Titelvereinigung außer Frage. Leko wird ebenso wie Kramnik von dem Dortmunder Carsten Hensel gemanagt.

„Natürlich sind Topalow und Anand favorisiert. Aber höchstwahrscheinlich wird der Sieger in einem ausgeglichenen Wettbewerb erst in der letzten Runde ermittelt, wenn nicht sogar in einem möglichen Tie-Break“, prophezeit Leko. Sicher scheint nur: Kasimdschanow wird seinen in Libyen errungenen Titel in der argentinischen Provinz-Hauptstadt kaum verteidigen können. Der in Solingen lebende Usbeke ist bei den Wettbüros mit einer Quote von 50:1 der krasseste Außenseiter. Ex-Weltmeister Anand, für den die Tipper nur den 2,8fachen Einsatz zurückerhielten, ist nach dem jahrelang nervenden WM-Hickhack heiß auf den ersten Zug: „Die Schachfans in aller Welt wollen Partien sehen und kein Palaver mehr hören!“ HARTMUT METZ