: Wie viel Welt steckt in Weltliteratur?
NABELSCHAU Der literarische Kanon besteht noch immer zum Großteil aus europäischen Altmeistern
Wer im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann nach Weltliteratur sucht, findet Shakespeare, Goethe, Tolstoi. Europäische Altmeister, die weltweit Unterrichtsmaterialien, Bibliotheken und Bestenlisten dominieren. Sie stehen sinnbildlich für literarische Exzellenz. Doch wie ist es um Autoren aus Lateinamerika, Afrika oder dem mittleren Osten bestellt?
Achim Geisenhanslüke, Professor in Frankfurt am Main, beschreibt Weltliteratur als „Kanon der großen literarischen Werke“. Nur wer entscheidet, welche Literaten in diesen Kanon aufgenommen werden?
Für Kritiker- und Jurypreise gibt es nachvollziehbare Vergabe-Richtlinien, für die Kategorisierung Weltliteratur nicht. Mehr Transparenz und Diversität findet sich im Einzelhandel: Doris Hofer, Disponentin des Kulturkaufhauses Dussmann, setzt auf Vielfalt und Ausgewogenheit: Neben altehrwürdigen Klassikern wie Dantes „Göttliche Komödie“ stehen moderne Werke wie Salingers „Fänger im Roggen“.
Während die Mitarbeiter im Buchhandel regelmäßig darüber abstimmen, welche Werke das Weltliteratur-Regal zieren, wirken die Bestenlisten internationaler Kulturredaktionen starrer. Statt kultureller Vielfalt dominieren darin weiße europäische Autoren. Nicht einmal fünfzehn Nicht-Europäer finden sich zum Beispiel unter den einhundert Platzierten der Klassikerliste der Zeit (siehe Grafik). Darin offenbart sich das Problem des Konzepts „Weltliteratur“: Nabelschau statt Abwechslung. Autoren kleiner Literaturkreise bekommen trotz neuer Medien und einer umsatzstarken Übersetzungsindustrie nach wie vor nur wenig Aufmerksamkeit.
Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk spricht sich daher für eine Neudeutung des weltliterarischen Begriffs aus: Es sei notwendig, den vorherrschenden Eurozentrismus zu überwinden. Eine globalisierte Welt müsse sich auch in der Autorenschaft und der Medienberichterstattung widerspiegeln. Nataliya Kuznetsova und Christopher Jürgensen
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