: Wie ein SED-Apparat weitermacht
■ Chronik des Rostocker Konfliktes: SED-Schulrat in Rostock machte aus Stasi-Leuten Pädagogen
Die neuen Parteien haben zwar eine Mehrheit in der Bevölkerung nach den Wahlen zur Volkskammer, aber in den Stadt- und Bezirksverwaltungen kämpft die „erneuerte“ SED -PDS mit den alten bürokratischen Tricks um jede Minute Macht und um jeden Posten. In Rostock zum Beispiel.
Am Anfang ging es darum, zu verhindern, daß Stasi-Leute ausgerechnet im Bildungswesen eingestellt werden. Je länger desto mehr ging es jedoch auch darum, den Verschleierungs und Verzögerungsmanövern von Stadtschulrat und Oberbürgermeister zu trotzen. Beide hatten noch Anfang Dezember die etwa 100 Leute des Bürgerrates als basisdemokratisches Kontrollorgan akzeptiert. Im Februar waren die Flitterwochen zu Ende. In den Schulen tauchten neue Lehrer auf, deren Alter und Verhalten Fragen nach ihrer pädagogischen Qualifikation provozierten.
Nach einer ersten Anfrage der Arbeitsgruppe des Bürgerrats am 9. 2. gibt der Schulrat 27 Einstellungen aus den „sensiblen Bereichen“ wie SED-Bezirksleitung (4), Kreisleitung (6), FDJ-Bezirksleitung(5), Innenministerium/Volkspolizei (5) zu. Daß auch ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter darunter ist, erfahren die BürgerrätInnen erst nach gezielter Nachfrage. Der Schulrat verschanzt sich aber hinter dem Argument, die persönlichen Daten der Betroffenen schützen zu müssen.
Die Arbeitsgruppe informiert Rat der Stadt und Runden Tisch. Der verlangt am 23. Februar Bendlins Rücktritt. Und nun geht es rund. Bendlin, unter Druck, bietet Rücktritt (26. 2.), aber auch Akteneinsicht an. Runder Tisch und AG des Bürgerrats bilden eine dreiköpfige Untersuchungskommission.
2. 3. Die Kommission berichtet dem Runden Tisch: Bendlin hat munter weiter aus den „sensiblen Bereichen“ Lehrkräfte eingestellt, sogar nachdem Arbeitsgruppe, Runder Tisch und Rat der Stadt alarmiert worden waren. Letzte Neueinstellung: 22. Februar. Inzwischen sind es nicht 27, sondern 35 „Sensible“. Der Runde Tisch verlangt Rücktritt Bendlins bis zum 6. März.
6. 3. Schleiff zum Leiter des Runden Tisches Dr. Wieberg: Der Rücktritt ist erfolgt, wird aber erst am 8. 3. in der Zeitung stehen.
8. 8. Bendlin bietet über Ostsee-Zeitung seinen Rücktritt an, präsentiert sich gleichzeitig auf der Direktorenkonferenz und Gewerkschaft Unterricht und Erziehung als Verteidiger von Schulspeisung und Schulkindergärten und ehemaligen SED-Mitgliedern im Schuldienst, die der Runde Tisch mit seiner Rücktrittsforderung bedrohe. Die Gewerkschaft fordert zum Warnstreik für Bendlin auf, um die sozialen Errungenschaften zu erhalten.
9. 3. Der Runde Tisch erfährt von 3er Kommission: Es sind nicht 35, sondern 44 „sensible“ Neueinstellungen. Er glaubt, daß Bendlin zurückgetreten ist und glaubt Hennig Schleiff, daß die Beratung der Stadtverordnetenversammlung am 15. 3. das nur noch bestätigen wird.
15. 3. Gustav Bendlin rechtfertigt sich vor der Stadtverordnetenversammlung, die bestätigt ihn im Amt.
Der Leiter des Runden Tisches, Dr. Wieberg, zur taz: „Hinter diesem Rauszögern durch Formalia steckt tatsächlich die Kameraderie unter Genossen.“
Uta Stolle
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