: Wie ein Auslassungszeichen
■ Zum Tod von Bernard-Marie Koltes
„Denn die einzige wirkliche Grausamkeit dieser Stunde der Dämmerung, in der wir beide uns befinden, besteht nicht darin, daß ein Mensch den anderen verletzt oder ihn verstümmelt oder ihn foltert oder ihm die Glieder oder den Kopf ausreißt oder ihn sogar zum Weinen bringt; die einzige und schreckliche Grausamkeit ist die des Menschen oder des Tieres, die den Menschen oder das Tier unvollendet macht, die ihn unterbricht wie ein Auslassungszeichen in der Mitte eines Satzes, die Grausamkeit, die sich von ihm abwendet, nachdem sie ihn angeblickt hat, die aus dem Tier oder dem Menschen einen Fehlblick, ein Fehlurteil, einen Fehler macht, so etwas wie einen Brief, den man begonnen hat und dann unwirsch zusammenknüllt, sobald man das Datum hingeschrieben hat.„(B.-M. Koltes, In der Einsamkeit der Baumwollfelder)
Im November vergangenen Jahres fuhr Bernard-Marie Koltes zum Dramaturgentag nach Berlin. Er war binnen weniger Jahre zum gefragten Dramatiker avanciert. In Berlin stand sein gesamtes Werk zur Diskussion. Statt dessen drehte sich die Debatte ausschließlich um Koltes jüngstes Stück Rückkehr in die Wüste. Der Autor hatte Einwände gegen die Inszenierung von Alexander Lang am Hamburger Thalia-Theater erhoben. Kündigte rechtliche Schritte an und verschwand bald wieder. Er hatte Wichtigeres zu tun. Schreiben, um sein letztes Stück zu Ende zu bringen. Ist es ihm gelungen? Bernard-Marie Koltes starb vergangenen Samstag in Paris, an Aids, gerade 41 Jahre alt geworden.
Koltes war schlank und dunkelhaarig, wirkte sehr jungenhaft. Er ging lieber ins Kino als ins Theater. Er konnte viele nicht leiden, vor allem die Regisseure nicht. Mit Ausnahme vielleicht (in Frankreich) von Patrice Chereau, der alle seine Stücke inszeniert hat. Chereau schreibt in einem Nachruf auf Koltes: „Er war so höflich zu denken, daß ich weniger Fehler machen würde als die anderen.“ Koltes haßte die Durchschnittsfranzosen, mochte die Afrikaner, liebte das Milieu am Rande der Gesellschaft, war fasziniert von Außenseiterfiguren wie „Roberto Succo“, dem er sein letztes Stück widmete. Die normalen Leute, die braven Bürger hielt er für die wirklich Ausgeflippten.
Mit Jean Genet, über dessen Stück Die Wände er im übrigen einen Text verfaßt hat, teilte er die Faszination für den Verbrecher, an der Schönheit des Verbrechens. Succo, seine Figur, hat es wirklich gegeben, ein vielfacher Mörder, der vor wenigen Jahren Schlagzeilen in den französischen Zeitungen machte. Geradezu eine „Zuneigung, eine Zärtlichkeit zu den wahren Mördern“ verspürte Koltes im Vergleich zu der alltäglichen, legitimierten Gewalt, die ihm Angst machte.
Neben seinen Theaterstücken veröffentliche Koltes einen Roman La fuite a cheval (Die Flucht zu Pferde), den er bereits in den 70er Jahren geschrieben hat. Ein großstadtmythomanisches Pamphlet, sehr hermetisch. Geschrieben wie seine Theaterstücke in einer Kunstsprache, die Alltagsrede und klassische Formeln leerlaufen läßt, viel monologisiert, platte Ausrutscher nicht scheut. Alltägliches wiederum metaphorisch verhandelt. Bei seinem Stück In der Einsamkeit der Baumwollfelder (Dans la solitude des champs de coton), mitten in der Betonwüste Manhattans gelegen, reden zwei Männer im Dunkeln. Der eine ein Dealer, der andere sein potentieller Kunde. Sie sprechen von einer nicht näher bezeichneten Ware, über ihr Verlangen und Begehren, über deren Käuflichkeit und Unverkäuflichkeit, eine kapitalistisch angetriebene Wunschmaschine, die sie nie wirklich miteinander in Kontakt bringen wird.
Was einerseits konkret verhandelt wird, ist andererseits allgemein unmöglich. So läßt sich über das Banale gut philosophieren. Koltes‘ Stücke sind allen Naturalismus enthoben: Bühne frei für Richard Peduzzi, der als ständiger Mitarbeiter die Bühnenbilder zu Chereaus Koltes -Inszenierungen entwarf. Peduzzis große abstrakte Entwürfe, die mit einigen Containern einen Quai Ouest oder eine Straßenecke der Baumwollfelder skizzierten, haben leere und wandelbare Räume geschaffen. Hier flutete das Wasser wie am Ende von Quai Ouest, hier schwammen die Bilder im cinematographischen Arrangement, mit karger Ästhetik und fast filmischer Außenperspektive. Sie erzeugten eine Exotik, die irgendwo zwischen inhaltsvoll und inhaltsleer schwankte.
Die meisten seiner Stücke sind in einer Art Niemandsland angesiedelt. Quai Ouest spielt zwischen Hangars in einer Hafenstraße New Yorks, und Kampf des Negers und der Hunde (Le combat de negre et des chiens) hat eine Baustelle in Afrika zum Schauplatz. Mit Rückkehr in die Wüste verlagerte sich - trotz des exotischen Beiklangs im Titel - die Perspektive erstmalig vom Ausland ins Inland, vom Rand in die Mitte der Gesellschaft, von draußen nach drinnen ins Haus eines französischen Provinzbürgers. Hier spielten die Kleinbürger in einer privaten Politposse verrückt.
Koltes war kein Politideologe, kein großer Theoretiker. Es habe nie einen politischen Aufhänger, keine politische Idee für eines seiner Stücke gegeben, meinte er. Die politischen Ereignisse - hier der Algerienkrieg - sind äußere Ereignisse, durch die seine Figuren geradezu unbewegt hindurchgehen oder sie gar mitmachen - spurlose Veränderungen, die Koltes beängstigend zeichnet. Zur Entlarvung der bürgerlichen Fassade griff Koltes in diesem Fall auf ein traditionelles Genre zurück: das bürgerliche Lustspiel, die Boulevard-Komödie, die er gegen den Strich bürstete.
Koltes wollte um keinen Preis als ernster, dunkler oder verzweifelter Autor gelten. Sein Regisseur gibt ihm recht, auch wenn Koltes‘ Stücke leichter auf diese Weise zu inszenieren gewesen seien. „Er war ein glücklicher Desperado“, sagt Chereau über seine Freundschaft mit Koltes, „ich bin kein Desperado, und ich war oft nicht so glücklich wie er, der so gut lachen konnte.“ Bei Chereaus Inszenierung von Rückkehr in die Wüste im vergangenen Herbst in Paris (mit Michel Piccoli und Jacqueline Maillan in den Hauptrollen) hat sich Koltes nach eigenen Aussagen amüsiert. Er war ausnahmsweise einmal ins Theater gegangen.
Sabine Seifert
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