Wie dem Autowahn entkommen?: Unfälle als natürliche Todesursache

Noch schwerfälliger als unsere Körper hat die jahrzehntelange automobile Dressur unsere Köpfe gemacht. Verkehrswende ist Denkwende.

Rdfahrer versuchen, im dichten Autoverkehr voranzukommen

Rushhour in der autogerechten Stadt Foto: Karsten Thielker

Die Hauptfigur meines ersten Romans wird, nachdem sie zweihundert Seiten lang durch die Stadt flaniert oder eher gestreunt ist, von einem Auto überfahren. Irgendwie muss man aus der Sache ja rauskommen, dachte ich mir damals, und da schien das einfach ein naheliegender Abbruch für einen außer Kontrolle geratenen Extremspaziergang: der Unfall als natürliche Todesursache des Fußgängers in der Großstadt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Tja. Was einem so natürlich erscheint. Neulich sprach ich eine Autofahrerin an, die ihr Fahrzeug auf einem dieser berüchtigten Fahrrad-„Schutzstreifen“ geparkt hatte, um sich in die Lektüre ihres Smartphones zu vertiefen.

Ich war freundlich, denn meine Frau hat mich mit Recht dazu ermahnt, nicht immerzu auszurasten, und man freut sich hierzustadt ja sowieso, wenn Autofahrer ihre Handys immerhin nicht beim Abbiegen benutzen. Wie sie es fände, fragte ich also in aller Höflichkeit, wenn ihr Kind auf diesem Radstreifen führe und da ein Auto drauf parkte? Sodass ihr Kind gezwungen wäre, nach links auf jene Spur auszuweichen, auf der Autos gerne mal mit sechzig, siebzig Sachen heranbrettern?

Erschrocken schaute sie mich an. Und antwortete: Niemals wäre sie so verantwortungslos, ihr Kind in der Stadt radfahren zu lassen.

Albrecht Selge ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er hat vier Romane geschrieben: „wach“ handelt vom Zu-Fuß-Gehen, „Die trunkene Fahrt“ vom Autofahren, „Fliegen“ vom Bahnfahren, und in „Beethovn“ kommt auf der letzten Seite tatsächlich ein Radfahrer vor. Die ersten drei Romane sind im Rowohlt-Verlag, der vierte ist bei Rowohlt.Berlin erschienen.

Es ist dasselbe Denkmuster, nach dem Eltern aus durchaus realem und ja sogar schönem Schutzinstinkt ihre Kinder im Auto bis vors Schultor karren: Elterntaxi statt Fahrrad oder Füße, weil Füße oder Fahrrad fürs Kind zu gefährlich wären – wegen der vielen Autos. Man muss gar nicht darüber spotten.

Jahrzehnte in der autogerechten Stadt

Wahrscheinlich ist zumindest einigen dieser Chauffiereltern das bizarre Paradox bewusst. Trotzdem scheint dieses Handeln alternativlos – natürlich. Was willste machen? Die Stadt ist, wie sie ist.

Einige Jahrzehnte autogerechte Stadt haben eben nicht nur unsere Bewegungs-, sondern auch unsere Denk- und Fantasieapparate verrenkt. So wird dann auch das Überfahrenwerden zur natürlichen Todesursache.

Diese ganze gegenwärtige Stadt, die aufs Auto zugeschnitten ist und unser Denken und Fantasieren aufs Auto zuschneidet, scheint mir eine Art Hyper-Mythos des Alltags, wie Roland Barthes ihn in seinen „Mythologies“ von 1957 definierte: Etwas zu einem konkreten historischen Zeitpunkt und aus konkreten Gründen Menschgemachtes wird zu einer Art unhintergehbarem Naturzustand umdefiniert und überhöht.

Reichsgaragenordnung von 1939

Wir haben diesen Mythos in Stein gehauen und in Beton gegossen, die Metropole als mythische Mega-Statue. Kommt man dann ins kontroverse Gespräch über mögliche Alternativen, landet man am Ende leicht bei der denkbar mickrigsten Schrumpfform des mythischen Denkens – etwa: Ja, wo soll man denn sonst parken?

Und stöbert man nach den historischen Wurzeln des Autostadt-Denkens, stößt man am Ende zum Beispiel auf die Reichsgaragenordnung von 1939, die Wohnen und Parken aneinanderschmiedete. „Die Förderung der Motorisierung ist das vom Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel“, heißt es darin. Der Führer befahl, wir folgen bis heute. Mag die SPD auch untergehen, die deutsche Nationalsozialdemokratie lebt. Und sei es noch darin, dass wir uns wie motorisierte Werwölfe als letztes Volk der Erde einem Tempolimit auf unseren Autobahnen widersetzen.

Manchmal ist es befreiend, die Welt einen Moment lang durch die Augen eines Kindes zu betrachten. Vor ein paar Jahren stand ich mit meinem ältesten Sohn auf einer jener Mittelinseln, die die weise Vorsehung der Natur inmitten der fließenden Verkehrsströme hat auftauchen lassen, um die Chancen von Fußgängern zu erhöhen, heil rüberzukommen. Zweihundert Meter von Schloss Bellevue ist diese Insel gelegen, und wir hatten eine Weile Gelegenheit, die schöne Aussicht des vorüberströmenden motorisierten Verkehrs zu genießen.

Leichtigkeit und Flüssigkeit

Und mein Sohn (durchaus aller Vorsichtsregeln gewahr, die wir schon den kleinsten Kindern einbläuen, so wie unsere Urgroßmütter einst ihre Kleinen warnten, sich vor dem Säbelzahntiger zu hüten, wenn sie die Höhle verlassen), mein Sohn also sinnierte: Warum müssen eigentlich immer die Fußgänger warten, bis die Autos vorbei sind, und nicht umgekehrt?

Ein Mensch, der sich in gewisser Weise (obwohl Universitätsprofessor und Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste) den kindlichen Blick auf unsere Städte bewahrt hat, ist der Österreicher Hermann Knoflacher, ein Mann wie aus einer Zeit, in der das fantastische Denken noch geholfen hat, und vielleicht irgendwie der Roland Barthes des Verkehrsdenkens.

Barthes war fünfundzwanzig und die Reichsgaragenordnung ein Jahr alt, als Knoflacher in Kärnten geboren wurde. Heute ist er achtzig und beinah ein Mythos jenes Alltags, wie er sein könnte, wenn da nicht überall das private Automobil wäre – der personifizierte Möglichkeitssinn. Knoflacher erkennt noch in den schönsten Spielplätzen die Käfighaltung des Kindes und die Absicht der Straßenverkehrsordnung von 1934, der Leichtigkeit und Flüssigkeit des motorisierten Verkehrs den Weg freizuräumen.

Das Auto als Virus

Das private Auto bezeichnet Knoflacher als ein „Virus“, und natürlich kann man diese Krankheitsmetaphorik kritisch sehen. Andererseits hat es ja eine gewisse Plausibilität bei einem Verkehrsmittel, das zu derart vielen Toten, Verletzten und Kranken (durch Abgase, Lärm, Bewegungsmangel) führt.

Und in Verbindung mit der haarsträubend ineffizienten Verkehrsbilanz des Privatautos, das im Durchschnitt über 23 von 24 Stunden als Stehzeug den öffentlichen Raum verstopft und selbst in Bewegung meist nur einen einzigen Menschen sowie viel leeren Raum transportiert, darf man mutmaßen, dass eine solche Erfindung überhaupt nicht zugelassen würde, wenn sie denn erst heute gemacht würde und das dicke Ende bekannt wäre.

Knoflacher meint seine Virus-Metaphorik allerdings wörtlicher: „Das Auto ist in den tiefsten Ebenen des Stammhirns bei den Menschen verankert. Der Mensch sieht die Welt nicht mehr so, wie er sie gesehen hat, bevor es das Auto gab. Er sieht die Welt so, wie es das Auto haben möchte. Sonst würde es draußen nicht so ausschauen.“

Die Welt durch die Windschutzscheibe

Und das entspricht im Grunde der Alltagserkenntnis, dass die Welt durch die Windschutzscheibe und aus dem Inneren eines gepanzerten Fahrzeugs anders aussieht als für den schutz- und scheibenlos Schauenden, der ungepanzert unterwegs ist. Denkt man dieses drastische Ungleichgewicht der sich bewegenden Körper in der Stadt weiter, erscheint einem der von sogenannten bürgerlichen Parteien und auch der naiven Polizei ständig ventilierte Hinweis auf „gegenseitige Rücksichtnahme“ als Lösung aller Straßenverkehrs-Übel wie blanker Hohn.

Dass die Reichskarrenlobby für Deutschland das ist, was Amerika an seiner Waffenlobby hat, ist ja mittlerweile fast ein Allgemeinplatz. Diese Lobby regiert dreist überall hinein, aber ihr nahrhaftestes Futter ist unser starres mythisches Denken, das nicht davon ab will oder kann, dass die autogerechte Stadt und das dem Auto dienende Land naturgegebene Tatsachen wären, Göttergeschenke der Mobilitäts-Evolution.

Unsere körperlichen Erfahrungen vertiefen dieses Denken, nicht nur beim automobilisierten Menschen: Der Fußgänger und der Radfahrer sind sich ja stets bewusst, dass ihnen bei Fehlverhalten oder auch bloß Pech der Tod droht, so als surfte er in haiverseuchten Gewässern.Kann gutgehen, geht meistens gut, muss aber nicht.

Makroraumfresser Automobil

Darum hat er sich, so wie das Kind und seine Eltern auf dem Spielplatz, mit seiner strukturellen Käfighaltung abgefunden. Und für den eingehegten Passanten, der sich an seinen geschrumpften Lebensraum angepasst hat, ist es ein natürlicher Reflex, sich von einem Eindringling in seine übriggelassenen Mikroräume (etwa der notorischen Nervensäge Gehwegradler) stärker bedroht zu fühlen als von dem Makroraumfresser Automobil.

Noch schwerfälliger als unsere den tatsächlich natürlichen Bewegungen entwöhnten Körper hat die jahrzehntelange automobile Dressur unsere Köpfe gemacht. Auch die haben natürliche Bewegungen verlernt. Verkehrswende muss sich darum beidem zuwenden – und zwar gleichzeitig, nicht nacheinander: dem ungerecht verteilten Verkehrsraum und den verquerten Denkräumen.

Sinnlos und sogar kontraproduktiv wäre es allerdings, wenn man nun einfach Pendler oder Autofahrer beschimpfte oder die Nummer Stadtzentrum gegen Peripherie, Stadt gegen Land spielte. Fight the game, not the player. Was einen dabei hoffnungsfroh stimmen könnte (trotz des hasenfüßigen Kleinmuts unserer verantwortlichen Politiker), ist eine auf Knoflacher zurückgehende Tiefengelassenheit: So wie die Menschen jahrzehntelang zur Autosucht dressiert wurden, können sie sich auch wieder umgewöhnen.

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