■ Gute Vorsätze für das neue Jahr oder: Ein Aufruf: Wider die Dünnhäuterei!
Früher hat der Mensch noch was ausgehalten. Es ging gar nicht anders. Im Dreißigjährigen Krieg hatten unsere Vorfahren durchschnittlich alle zwei Wochen Besuch von Mörderbanden und Marodeuren der einen oder anderen Seite, was in der Regel dazu führte, daß die wohnliche Heimstatt ruck, zuck in einen postapokalyptischen Schrottplatz verwandelt wurde und dringend der Totalrenovierung bedurfte. Nichts aber ist von dieser Duldsamkeit geblieben.
Wenn im zeitgenössischen Ikea- Haushalt ein Glas Rotwein umfällt und seinen Inhalt über die Auslegeware ergießt, herrscht im Handumdrehen eine Stimmung wie nach einem Bombenanschlag: Kreischend fährt die Hausherrin auf, um unter Absonderung wahllos zusammengesuchter Klageausrufe größere Mengen an Wasser und Salz herbeizuschaffen, während ihr Lebensgefährte den Verursacher des Unheils am Kragen packt und mit erhobenem Brieföffner zur Herausgabe seiner Haftpflichtversicherungsnummer zwingt.
Ganz ähnlich ist das Geschrei, das Verzögerungen an der Frischwursttheke oder Kratzer auf alten Deep-Purple-Platten hervorrufen, und so ist es schon fast ein Wunder, wenn jemand mal keinen Tobsuchtsanfall kriegt, wenn ihm beim Versuch, eine Bierbüchse zu öffnen, der Verschlußnupsi abreißt.
Groß aber sind die Gefahren, die in der gegenwärtigen Dünnhäutigkeit liegen! Wie nämlich würde der Zeitgenosse einen richtig knackigen GAU überstehen, wenn er sich schon das Kaschmirjackett zerreißt und die Zigarettenasche vom Vortag aufs Haupt streut, sobald er beim Frühstück feststellt, daß keine Milch mehr fürs Müsli da ist? Wie würde er reagieren wollen, wenn ein Heuschreckenbataillon den Gemüsegarten ratzekahl leer frißt oder er nach der Rückkehr aus dem Urlaub entdeckt, daß er den Gasherd wirklich nicht abgestellt hat? Mit Selbstmord? Einem Amoklauf? Der rituellen Entleibung des Nachbarkaters Carlo?
Es ist infolgedessen höchste Eisenbahn, die Belastbarkeit unserer Mitkreaturen zu stärken. Überall können wir mit unserem Aufbautraining beginnen: Wir können uns auf einem Zebrastreifen zur Hauptverkehrszeit die Schnürsenkel zubinden oder uns am Auskunftsschalter der Bundesbahn eine Verbindung nach Aschchabad/Turkmenistan heraussuchen lassen. Wir können die unersetzlichen Erstausgaben bibliophiler Freunde mit Kaffee bekleckern, und wenn uns Kollegen zum Essen einladen, dann ist es ein leichtes, eine Flasche sauteuren Grappa versehentlich zu zertrümmern oder auch die gute Ledercouch mit Hilfe einer Zigarette um ein Brandloch zu bereichern. Die Möglichkeiten, die wir haben, sind praktisch unbegrenzt.
Nichtsdestoweniger sollten wir uns klar darüber sein, daß wir auf allerhand Unverständnis stoßen werden. Kann sogar sein, daß unser bibliophiler Freund oder der Grappa-Kollege uns mit chirurgischer Kunstfertigkeit in unsere anatomischen Einzelteile zerlegt. Doch unsere Zeit wird kommen, und wenn künftige Generationen unsere edlen Ziele erst mal verstanden haben, dann werden auch bestimmt unsere verstreuten Knochen wieder eingesammelt und für ein Mausoleum zusammengepuzzelt. Joachim Schulz
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