KOMMENTAR: Wider die 89er-Nostalgie
■ Das Bündnis 90 muß inhaltliche Konzepte entwickeln
Angetreten waren sie in Ablehnung der etablierten Parteien und deren überkommenen und teilweise verkommenen Strukturen. Dem entgegengehalten wurde das eigene Modell der direkten Bürgerbeteiligung. Paradoxerweise fingen die Gruppierungen der Bürgerbewegung in dem Maße an, den von ihnen kritisierten Parteien zu ähneln, in dem sie über dieses Selbstverständnis stritten. Was in den letzten Wochen als programmatische Differenz gehandelt wurde, hatte häufig ganz banale Ursachen. Die Gruppen sind als unterschiedliche entstanden in verschiedenen Wohnzimmern. Ein Umstand, der weniger inhaltlichen Divergenzen als der Bedrohung durch die Staatssicherheit geschuldet war. Das Familiäre des Zusammenhalts hat sich seitdem ebenso erhalten wie das Familiäre der Auseinandersetzungen. Allerdings führte das Gerangel um Posten und Mandate, die Ausbildung von Machtansprüchen und Seilschaften bei den Anhängern der Gruppierungen zu der Verdrossenheit, von der die Protagonisten dachten, daß sie nur Parteien eigen sei.
Die Quittung wurde nun präsentiert. Kaum 100 Aktive fanden sich zur Gründung des Bündnis 90 ein. Welcher Basisbewegte darin Anlaß zur Häme sieht, weil er den Marsch in die Parlamente eh für die falsche Richtung hält, hat die Zeichen nicht verstanden. Die Zeiten der friedlichen Revolution sind vorbei, die Politikverdrossenheit trifft Fundis und Realos gleichermaßen. Es ist von daher richtig, von einem Neuaufbau des Bündnisses zu sprechen. Gefordert ist nicht das Lamento über Strukturen, sondern die Entwicklung inhaltlicher Konzepte. Das psychologisierende Rekurrieren auf die östliche Trotzidentität sollte abgelöst werden durch eine thematische Besetzung der Politikfelder, die bestimmend sind für die Befindlichkeit der Bevölkerung Ost-Berlins. Darin läge die Chance, sich gegenüber den etablierten Parteien zu profilieren, deren Ostberliner Köpfe häufig nur nachvollziehen, was die Westberliner Strategen vorgeben. Das Bündnis kann dazu den Sachverstand der Westberliner Grünen nutzen, die politischen Positionen muß es jedoch selbst bestimmen. Dieter Rulff
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