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Wichtigeres als Sex

■ Ein Vermächtnis des Schwarzen Tanzes: Das Alvin Ailey American Dance Theater kommt gleich mit zwei verschiedenen Programmen nach Hamburg

Texas, 1950. In den Bussen sitzen die Menschen nach Hautfarbe getrennt, die Weißen vorne, die Schwarzen hinten. In den Proberäumen der Compagnien versammeln sich nur Tänzer von weißer Hautfarbe. Den schwarzen amerikanischen Tanz gibt es auf der Bühne nicht, noch nicht. Bis Lester Horton als einer der ersten ein „nicht rassisch gebundenes“ Ensemble organisiert. Mit dabei ist der junge Afroamerikaner Alvin Ailey. Er gründet vier Jahre später ein kleines Ensemble und schafft mit der Choreografie Revelations den Durchbruch: Mit dieser Offenbarung schwarzer Identität setzt er einen Meilenstein in der Geschichte der amerikanischen Kulturszene.

Seit 35 Jahren tanzt sein Ensemble beharrlich dieses Werk. Keiner der Neuankömmlinge kommt – neben den siebzig anderen Choreografien von Ailey – um dieses Stück herum. Auch bei dem Gastspiel des Alvin Ailey American Dance Theater in Hamburg wird das Stück in der kommenden Woche – neben Hymn, Vesper, Shelter und Winter in Lisbon – auf dem Programm stehen.

Alvin Ailey wollte Qualität, und er wollte alles. Er kombinierte den amerikanischen Modern-Dance mit den Spagatsprüngen des Balletts, die Drehungen der Ausdruckstänzerin Mary Wigman mit der unterhaltsamen Broadway-Show, den Afrokaribischen Stil mit den funky-ähnlichen Hüftbewegungen des Jazz. Dazu sollte noch jeder Solist sein individuelles Charisma ausspielen können und genauso auch jede Gefühlsregung: „Wenn du dich geärgert hast, dann bring das mit in den Tanz“, forderte der Choreograf.

In Revelations zeigt er Stationen des schwarzamerikanischen Lebens. Dicht gedrängt stehen die Tänzer zu Beginn mit gebeugtem Oberkörper, ein Ausdruck der Beladenen. Eine Tänzerin hebt ab in ein verspieltes, leichtes Solo, das den Wunsch nach Befreiung und den ungebrochenen Willen zur Lebensfreude ausdrückt. Die Menschen haben Wichtigeres zu tun, als sich mit Sex abzugeben: Zu dem Negro-Spiritual „Bring In The Water“ holt ein Paar in einem physisch überaus anstrengenden Akt das Wasser nach oben, in dem folgenden Ritual erspüren die Menschen die erneuernde Kraft, die sich im Glauben manifestiert. Doch der Ernst der Thematik bricht wieder um, die Frauen schimpfen ihre Männer aus, und noch bevor die Sonne untergeht, trotzen sie im Tanz mit dem Fächer der stickigen Schwüle der Nacht.

Wer ein Stück von Ailey sieht, der versteht, wo die Posen des später in Mode kommenden Discostiles ihren Urspung nahmen: Hier tanzt ein Zeigefinger nebenbei in der Luft, während die Hüfte und das Knie etwas anderes machen. Schnell klatschen die Hände dazwischen, schon sitzt die nächste Pose – oder die achtfache Drehung, die die Solisten meisterhaft beherrschen.

Ärgerlich ist an der Bühnenshow allerdings, daß sie im CCH stattfinden muß. So eine Inszenierung gehört in anderen Städten in ein Opernhaus.

Gabriele Wittmann

„Hymn“, „Vesper“, „Revelations“ am 17. und 19. Oktober, „Winter in Lisbon“, „Shelter“, „Revelations“ am 18. Oktober; jeweils 20 Uhr im CCH

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