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Wer übernimmt die Verantwortung?

■ betr.: Verschiedene Publikatio nen, zuletzt im „Spiegel“ Nr.39/ 1993: „In Montessori-Kindergär ten sollen Kinder sexuell miß braucht worden sein“ (Prozesse)

Seit einiger Zeit verbreitet sich – natürlich importiert aus den USA – der neue/alte Mythos vom „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“. Diesem Mythos scheint sich auch die Wochenzeitschrift Der Spiegel seit einiger Zeit anschließen zu wollen, wenn zum Beispiel im oben genannten Artikel die Aussagen von über 50 Kindern zu sexuellen Übergriffen eines Erziehers im Borkener und Coesfelder Montessori-Kinderhaus als „Wahn“ hingestellt und der Eindruck erweckt wird, daß Aussagen auf Suggestion seitens der Eltern oder des Kinder- und Jugendpsychiaters Prof. Dr. T. Fürniss oder auf angeblich „einseitiger“ Interpretation von Mitarbeiterinnen professioneller Beratungsstellen wie Zartbitter Coesfeld e.V. beruhen.

Um diesen Eindruck zu erzeugen, werden den LeserInnen Halbwahrheiten dargeboten, denen u.a. Auslassungen wichtiger, weil sinngebender Details zugrunde liegen, z.B. in der Darstellung der Situation der Erstaussage des Kindes. So wurde der Dialog zwischen dem betroffenen Kind und der Freundin der Mutter, die auch Mitarbeiterin bei Zartbitter Coesfeld ist, völlig sinnentstellend mit Phantasien und Mutmaßungen der AutorInnen angereichert, so z.B. mit der Phantasie, daß das Kind offenbar nicht spazierengehen wollte – ein Gedanke, der jeden Bezug zur Realität entbehrt.

Ausgespart wurde z.B. auch hinsichtlich der bisher vergeblichen Suche nach pornographischen Fotos und Filmen die Information, daß die betreffenden Täter mehrere Monate nach der Aufdeckung und Kündigung des angeklagten Erziehers R.M. Zeit gehabt hätten, dieses Material „untertauchen“ zu lassen.

Die Glaubwürdigkeit der Kinder in Frage zu stellen ist wohl auch die Zielrichtung, wenn folgender Zusammenhang hergestellt wird: „Von da an (ab der Kündigung von R.M., Zartbitter Coesfeld) stieg die Zahl der Kinder, denen angeblich auch der Finger in den Po gesteckt wurde, je häufiger und intensiver die Eltern ihre Gedanken und Informationen austauschten.“ (Der Spiegel Nr. 39/93 S. 93) JedeR, die mit sexuell mißbrauchten Kindern zu tun hat, weiß, daß Kinder in der Regel von den Tätern unter Geheimhaltungsdruck gesetzt werden (und in diesem Fall offenbar in besonderem Maße). Aufgrund dessen ist es nur „natürlich“, daß ein sexuell mißbrauchtes Kind regelrecht eine Erlaubnis braucht, um über sexuelle Übergriffe reden zu können. Zum anderen muß ein solches Kind die Gewißheit haben, daß es dem Mißbraucher nicht mehr begegnet oder zumindest vor dessen Androhungen geschützt ist. Beide Bedingungen waren in diesem Fall aber erst nach der Aufdeckung bzw. Kündigung von R.M. gegeben. Hieraus ergibt sich folgerichtig, daß erst danach die meisten Kinder den Mut fanden, über ihre Erlebnisse zu reden.

Auch wundern wir uns angesichts des Anspruchs auf Seriosität über die Einseitigkeit der Informationsquellen der AutorInnen, die die Informationen zu den Sachverhalten weder von Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle Zartbitter Coesfeld e.V. noch von den Anwältinnen der Nebenklage der Eltern betroffener Kinder bezogen. Es mutet doch seltsam an, daß die Hauptbezugsquelle für die dem Artikel zugrunde liegenden Informationen die Verteidiger des Angeklagten R.M. zu sein scheinen.

In dieser Vorgehensweise ähneln sich die Strategien dieser Gegenbewegung, auch backlash genannt. So beziehen sich VertreterInnen, die das Problem „Sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen“ bagatellisieren wollen, häufig auf Aussagen von Sympathisanten oder Vertretern der Pädophilen- Bewegung.

Sicherlich ist es für viele Menschen einfach unvorstellbar, daß diese Dinge, wie sie z.B. R.M. vorgeworfen werden, tatsächlich geschehen. Doch ist dies allein schon Grund genug, diese Dinge in Frage zu stellen? Die Ungeheuerlichkeiten der NS-Zeit, die Folter und Vergewaltigungen von Frauen in Ex-Jugoslawien, die Kinderprostitution in asiatischen Ländern, all dies sind erwiesenermaßen Fakten. Und auch wenn sich viele diese Geschehnisse nicht vorstellen können, werden sie deshalb nicht weniger real. Die Fragen, die angesichts der Aussagen der Kinder zu stellen sind, sollten nicht nur lauten, ob das geschehen ist, sondern wie und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen das geschehen konnte.

Eine weitere Merkwürdigkeit des Artikels ist, den Eindruck zu suggerieren, daß es sich in diesem Fall um „Hexenwahn“ handelt. Hexen waren ihrerzeit u.a. Frauen, die weibliche Macht und weibliches Wissen und vor allem auch Unabhängigkeit von Männern verkörperten und die aus diesen Gründen von männlichen Inquisitoren vernichtet wurden. Und wenn schon eine Parallele zu dieser Zeit gezogen werden soll, dann doch wohl die, daß wieder einmal – diesmal vom Spiegel – Frauen (und auch Männer) verfolgt und denunziert werden, die die sexuelle Gewalt von (überwiegend) Männern gegenüber Schwächeren (Mädchen und Jungen) aufdecken und benennen, und daß sie des „Wahns“ bezichtigt werden, wenn sie die, häufig so ungeliebte Wahrheit nennen. Im übrigen ist dies eine männliche Strategie, die in Vergangenheit und Gegenwart sehr häufig Frauen gegenüber eingesetzt wurde/wird.

Wir fragen uns, ob sich der Spiegel seiner Verantwortung bewußt ist, wenn er solche Artikel veröffentlicht. Denn für betroffene Mädchen und Jungen, aber auch für Frauen und Männer, die sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erlebt haben, bedeuten diese Beiträge wieder einmal die Infragestellung und Verleugnung der von ihnen erfahrenen Realität. Und ihre Angst, „mir glaubt sowieso niemand“, wird damit zur erschreckenden Wirklichkeit. Darüber hinaus bewirken Veröffentlichungen wie diese, daß Mütter (Väter), ErzieherInnen, LehrerInnen und andere Erwachsene, die ihre Verantwortung Kindern gegenüber ernst nehmen, wieder einmal verunsichert werden in ihren Wahrnehmungen und in ihren Versuchen, stattfindende sexuelle Gewalt aufzudecken – aus Angst, einem „Wahn“ zu erliegen oder sich solche Unterstellungen gefallen lassen zu müssen.

Wer übernimmt für diese bitteren Früchte die Verantwortung? Zartbitter Coesfeld e.V. –

Frauen gegen Gewalt –

Beratung und Selbsthilfe

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