: Wer sind die Schuldigen
■ betr.: "Schuld und Sühne", taz vom 3.4.90
betr.: „Schuld und Sühne“, taz vom 3.4.90
Ein sehr spannender Artikel, allein das Thema geht unter die Haut und wirft ein Netz von Fragen auf. Warum aber beginnt er: „Was soll mit den Schuldigen werden?“ Weiß er denn, wer sie sind, die Schuldigen? Auch in der DDR wird zur Zeit deutlich, wie sehr alle Bewohner des Landes in die Verbrechen des Staates verstrickt sind. Vonnöten sind nicht nur Helfershelfer, Nutznießer und Duldende, damit einige foltern, prügeln, einschüchtern und töten können, auch die Bewegungen der Regimegegner entscheiden mit, deren Lähmungen, Taktieren, Ängste, Übereifer...
Die ehemaligen Machthaber drücken nicht nur Furcht aus, wenn sie die Verfolgung ihrer Verbrechen bekämpfen, sie sind auch empört über die Einseitigkeit: als einstige politische Stellvertreter sollen sie nun stellvertretend büßen. So neigen beispielsweise viele DDR-Bürger dazu, möglichst nur die obersten Verantwortlichen bestrafen zu wollen. Den untergebenen Stasi-Leuten fühlen sie sich verwandt. Wer nur die Obersten bestrafen will, übersieht aber, daß diese immer auch delegiert sind: nicht nur von Eltern, Großeltern (...), sondern der großen Mehrheit der Bevölkerung (auf eine vertrackte Weise vielleicht aller Bürger). Würde die nicht mitspielen, statt dessen ihre eigenen (...) Spiele betreiben, die Obersten wären schnell die Clowns ihrer großen Ansprüche. Oder hat ein Oberster keine Onkel, Schwestern oder Freunde, die sagen können müßten: „Hör auf!“?
Dies in Betracht zu ziehen, wird aber gerade verhindert, wenn allein einigen Anführern die Schuld aufgehalst wird. Eine demokratische Gesellschaft wollen viele aufbauen, konservieren aber autoritäre, hierarchische Strukturen, indem sie die einstigen Helden der „guten Sache“ zu Antihelden der Schuld machen. Demokratie kann doch nur lebendig werden, wenn jeder sich als Moment begreift, das die gesellschaftliche Wirklichkeit mitproduziert.
(...) Am spannendsten fand ich, wie Aryeh Neier die öffentlichen Untersuchungen in Uganda und die öffentlichen Prozesse in Argentinien beschreibt. Viele Menschen haben offensichtlich ein großes Bedürfnis, zu sehen, wie die Verbrechen möglich waren, unter denen sie so lange gelitten haben. Überall diskutieren sie die Enthüllungen. Was würde geschehen, wenn sie sich zunehmend als Teil der Verbrechen erkennten? Jeder von ihnen hätte etwas beizutragen, etwas Einmaliges und Unersetzliches, und aus diesen Millionen Geschichten würde die Geschichte eines Volkes entstehen kein Historiker hätte sie noch zu schreiben.
Möglicherweise sänke so auch die Angst vor öffentlicher Untersuchung und Diskussion (nachdem sie anfangs wohl gewachsen wäre). Nicht nur die gerichtlichen Strafen, auch die moralischen würden verschwinden. Weitere Frage tauchten auf: Wie soll Schuld gemessen werden? Ist Strafe wichtiger als das eigene Ansehen der Tat, und verhindert Strafe letzteres nicht eher mit ihren großspurigen Ansprüchen? Wer kann sagen, was zusammenwirkt, daß einer etwas tut, ein anderer nicht? Erfahrungen mit Macht, Geschicklichkeit und Vorsicht bei illegalen Aktionen, Selbstsicherheit, Sendungsbewußtsein, Einsamkeit, Parteizugehörigkeit... Dies alles zu beurteilen ist nicht möglich, wie dann verurteilen? Gesetze sind willkürlich. Sie setzen an konkreten Taten an. Nur die gemeinsame Arbeit vieler kann etwas greifbar machen von dem Geflecht von Wirkungen, das derartige Verbrechen produziert. (...)
Carl Polonyi, Berlin
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