: Wer ist eigentlich kränker?
■ Von der altdeutschen Tradition des Nabelbruchheilens, von Berliner Baumattentätern - und von der Krankheit von Mensch und Baum
Um die Jahrhundertwende findet man in Deutschland und noch heute bei Nachfahren deutschstämmiger Einwanderer in Brasilien den Brauch, Krankheiten auf Bäume zu übertragen. Am Beispiel des Nabelbruchs geht das (in Brasilien) so zu: Man zeichnet Hand oder Fuß des bruchkranken Menschen auf der Rinde zum Beispiel des „Käsbaumes“ ab, trennt das Stück Rinde heraus und träufelt etwas von dem Baumsaft auf den Nabel des Menschen. Mit Hilfe von „Besprechungen“ soll nun der Nabelbruch heilen. Er ist erst dann vollständig verheilt, wenn die Baumrinde sich über ihrer Verletzung wieder geschlossen hat. Der Baum wird also als Überträger betrachtet, mit dem nun Gesundheit und Leben des Kranken zusammenhängen - und der daher nicht eingehen darf.
1990 gehen nun welche her und verletzen Bäume. Sie schneiden nicht gedankenlos Herzen in sie, verpassen ihnen keine Reißzwecken, gehen nicht mit Hunden Gassi und parken auch nicht Autos Stoßstange an Baumrinde. Sie schlitzen den gesamten Baum auf, entfernen seine Rinde.
Für einen Nabelbruch reichte es, ein Stück Rinde in der Größe einer Hand oder eines Fußes abzulösen. Für jene „Baumvandalen“ sei hier einmal der Umkehrschluß angedacht: Wie groß muß das Elend und die Krankheit derer sein, die da einem Baum die gesamte Rinde abreißen? Die Krankheit muß unheilbar sein, denn der Baum wird eingehen. Und ob es sich hier um die individuelle Krankheit von „Irren“ handelt oder um die Krankheit der Gesellschaft, ist völlig nebensächlich. Macht das Ganze doch nur drastisch deutlich, was ohnehin das Schicksal der Berliner Bäume ist. Sie sterben ab; und niemand mehr fühlt seine Gesundheit und sein Leben so eng mit ihnen verbunden, daß er alles dransetzte, ihr Leben zu erhalten.
Jahrhundertelang haben manche Menschen Bäume oft nur nach Gesichtspunkten des unmittelbaren Nutzens betrachtet; Holz war Lebensgrundlage. Aber trotzdem oder vielleicht deswegen bestand eine Beziehung zwischen dem „Material Baum“ und dem Menschen. Elzeard Bouffier (siehe Kasten) hat noch gewußt, daß eine Landschaft ohne Bäume verkarstet, daß die Bäche versiegen und daß das menschliche Leben stirbt. Heute, so erklärte Jean Giono im 'Grünstift‘ November/Dezember 1987, „ist alles verändert und über den Haufen geworfen, um Silos für Atombomben, Schießplätze und mehrere Komplexe von Ölreservoirs anzulegen“. Die Spuren des alten Elzeard seien verwischt, nur wenige Wäldchen noch unversehrt.
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