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„Wenn ich mal auf den Kran könnte!“

Hunderte von Bauarbeitern auf dem Potsdamer Platz – und Tausende kommen, um ihnen zuzuschauen. Wenn sie den Kopf weit in den Nacken legen, sehen sie Marian Drozdz auf seinem Kran stehen  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Die Einsamkeit des Kranführers beginnt morgens um sieben und beschäftigt ihn zehn Stunden. Wenn noch Nachtschwarz über der Stadt liegt, die Handschuhe klamm sind und die Schuhe kalt, verabschiedet sich Marian Drozdz von seinen Kollegen. Der Himmel ruft.

Die Kollegen in ihren wattierten bananengelben Jacken palavern noch, grüppchenweise grenzüberschreitend auf italienisch, polnisch, türkisch, spanisch, österreichisch. Marian aus Poznań (Posen), 45, hat niemanden zum Reden, stumm verpaßt er Berlins Mitte ein neues Antlitz. Sein einziger Gesprächspartner ist das Funkgerät, das ihm mitteilt, ob die Last noch zwanzig Zentimeter oder zwanzig Meter über dem Boden hängt. Sehen kann man den Unterschied vom Kran aus nicht.

Täglich, und mit jedem Tag geübter, klettert er zu seinem Arbeitsplatz, dem Kranführernest in 110 Meter Höhe. 563 vereiste Sprossen im Kranschaft ohne Sicherungsseil, nach 50 schwankt es bereits einen Meter nach links, einen nach rechts. Nur zehn Minuten braucht Marian Drozdz für den Dauerlauf in der Vertikalen; vor neun Monaten, als er den K5 das erste Mal erklomm, brauchte er zwanzig. Der werktägliche Weg himmelwärts und zurück ins Diesseits ist Marians einziger Auslauf, den Bauchansatz trainiert er am Wochenende beim Bodybuilding weg.

Über Marian nur Krähengetorkel, unter ihm die 450 Metropolenbauer vom Potsdamer Platz – und ganz weit weg ein gedämpftes Hämmern, Schweißen, Klopfen. Dazwischen ein Flugzeug, das stumm vorbeizieht, ein Hochhaus, auf dem erst POST, dann GIRO in weißen Lettern aufleuchtet – ansonsten unüberhörbare Stille.

Mit zwei Joysticks dirigiert Marian K5, den höchsten Baukran der Stadt.

Eine Betonplatte hängt am Ausleger, die muß Marian über die Rohbauten der künftigen debis- Zentrale hinwegheben. Die Arme auf die Konsolen gestützt, guckt er durch das Fenster zwischen seinen Füßen, daß die Betonplatte ja nirgends anstößt – und der Kranhals wankt unter dem Gewicht, als würde er gleich abknicken: „Da muß man sich halt dran gewöhnen.“ Wackelt es zu doll, beamt sich Marian in ein Karussell. „Da habe ich auch keine Angst, wenn es schaukelt.“ Schwindel – so was hat Marian noch nie gefühlt, Angst erst einmal. Als ein Blitz einschlug in die Kranspitze, „da hat mein Herz gerast“. Passiert ist ihm nichts, Stromstöße machen aus dem Führerhäuschen einen Faradaykäfig.

Seit über zwanzig Jahren sitzt Marian auf Baukränen, seinen Blasenmuskel hat er darauf abgerichtet: „Ich kann bis zu sechs Stunden einhalten, wenn ich muß.“ Für alle Fälle nimmt er immer ein leeres Apfelrotkohlglas mit nach oben. An diesem Tag wird es halb voll. Denn in der halben Stunde Mittagspause am Potsdamer Platz kann er nicht zwanzig Minuten fürs Rauf- und Runterklettern verschwenden. So bleibt Marian um ein Uhr sitzen, während er die Kollegen in die Kantine schlendern sieht, packt seine zwei Wurstbrote aus, öffnet einen Sahnejoghurt – und blättert im Fernsehprogramm.

Mindestens zehn Stunden hält Marian den Kran in Bewegung, oft werden es vierzehn. Dafür kriegt er 1.800 Mark netto im Monat, soviel verdient in Polen noch nicht mal ein Professor.

Am liebsten hätte Marian ein Telefon neben seinem Sessel, „dann könnte ich mit meiner Frau telefonieren und sie fragen, wie es ihr geht“. Oder ihr erzählen, „was ich hier oben sehe“. Manchmal nagt die Stille an ihm.

27 Männer und Frauen stapfen über Kabel und Gasleitungen, weichen den Lkw aus und den Betonmischern. Es ist ein Hindernislauf für die Besucher vom Heimatmuseum Tiergarten, „Wer sehen will, muß auch fühlen“, frotzelt einer.

Vom Dach des Weinhauses Huth, einem von drei Altbauten, die dem Potsdamer Platz erhalten bleiben, wird den Männern und Frauen erklärt, was da so vor sich geht auf den 111.000 Quadratmetern Baustelle. Neben anderem entsteht hier die Zentrale der debis, der Tochterfirma von Daimler-Benz, die für den Konzern die Computer- und Finanzgeschäfte abwickelt. Ergriffen und ehrfürchtig lassen sie sich zeigen, wo ein Hotel gebaut werden soll und wo der Tiergartentunnel für Autos und Bundesbahn verlegt wird, wie Kräne wachsen und manche Bagger sogar tauchen.

Aus dem umgepflügten Todesstreifen soll eine Weltstadt-Mitte wachsen? Die Besucher können es nicht fassen, seufzen mal „ach!“, mal „oh!“.

„Ich kenne den Platz als Brache, als toten Platz“, nuschelt eine Rentnerin in ihren Mohairschal. Wie um die Baustelle und die Veränderung zu begreifen, macht sie die von der debis-Pressestelle angebotene Führung nun schon zum drittenmal mit. Viel schlauer allerdings ist sie dadurch auch nicht geworden. „Man kann doch nicht alles auf einmal bauen, ein Platz muß wachsen!“ Schon hundertmal hat Baustellenführer Stefan Maetz das gehört – und hundertmal schon hat er versucht, Begeisterung zu entfachen: „Das ist es ja gerade, was die Sache so spannend macht.“

Im Detail klärt er die Besucher darüber auf, warum Bagger unter Grundwasser tauchen, daß nahezu täglich 60 Bauleiter die Bauabschnitte durchsprechen – und wo die Bauarbeiter ihre klammen Hände auftauen: „Es gibt extra heiße Duschen.“

Einer will wissen, warum die Kräne nicht umknicken – simultan knicken 27 Köpfe nach hinten. Wenn sie jetzt auf den Ausleger des höchsten Krans gucken würden, könnten sie Marian erkennen, wie er bei den Betongewichten steht – und eine Zigarette raucht.

Das viele Sitzen und Den-Kopf- nach-unten-Knicken machen Marian Dozdz ganz kribbelig. Im Dach der Krankanzel ist eine Luke, durch die er sich zwängt – dann kann er auf dem schmalen Gittersims zwanzig Meter spazierengehen und den zwei Quadratmetern Arbeitsplatz entfliehen. Manchmal wünscht er sich, Bagger zu fahren, Gruben auszuheben, Fundamente zu gießen. Auf jeden Fall was Irdisches: „Es ist sehr einsam hier oben“, sagt er und lehnt sich an die Betongewichte. Aber dafür, vergleicht er in solchen Momenten, „habe ich den schönsten Ausblick auf Berlin“. Ihn erinnern der Landwehrkanal und die Bäume an Polen.

Außerdem ist er schon ein bißchen stolz: In seiner Zunft, sagt er, sei es das Größte, am Potsdamer Platz zu arbeiten. Als er Weihnachten zu Hause war, zeigte er seinen Söhnen und seiner Frau Fotos von der Baustelle, die er bei Sonnenschein vom Ausleger aus gemacht hat: „Die konnten gar nicht fassen, wo ich arbeite.“

Wenn ihn die Familie im März besucht, will Marian mit ihnen eine debis-Führung mitmachen. „Ich könnte gar nicht erklären, was wir hier machen.“

Wenn die Männer und Frauen des Heimatmuseums Tiergarten nicht gerade auf Exkursion am Potsdamer Platz sind, buddeln sie selbst – in Bezirkserde. Finden alte Kacheln, kartographieren und dokumentieren wie Hobbyarchäologen. Einem älteren Herrn, der die Führung zum zweitenmal mitmacht, ist die Wucht, mit der der jahrzehntelang brachliegende Platz neu designt wird, „ein bißchen unheimlich“.

Er stiert auf die Kräne und auf die Maurer, auf die Wohncontainer und auf die Schweißer – und erinnert sich, „wie ich als kleiner Junge Schule geschwänzt und auf dem Jahrmarkt eine heiße Blutwurst gekauft habe“. Dort, wo jetzt das Grundwasser hochkommt und ein Hotel entstehen soll. Der Mann guckt traurig.

Er zögert erst – und bannt dann doch die bombastische Baustelle auf Video. Als traue er seinen Augen nicht. „Ich habe mit mir gekämpft, ob ich hierhergehen soll“, sagt der Mann und macht einen Rundumschwenk, „aber dann habe ich mir gedacht, was soll's, aufhalten kann ich es so und so nicht.“

Mit dem Hubschrauber über die Baustelle fliegen und filmen, „das wär' was“, sagt er mit zugepetztem linkem Auge. Er wäre auch schon glücklich, wenn „ich mal auf so einen Kran könnte“.

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