: Wenn die Zuschauer gemeinsam mit der Bühne untergehen: Die rosarot gezappelte Popgeschichte des Jérome Bel
Stellen Sie sich vor, Sie sind im Theater. Um Sie herum ist es nachtschwarz. Keine Bühne, keine Darsteller. „Imagine“ singt John Lennon vom Band. Doch es kommt noch ärger. „Sounds of Silence“ flüstern Simon & Garfunkel, und bis zum erneuten Einsetzen des Refrains herrscht Stille. Ein Nichts? Ganz im Gegenteil. Totales Theater bescherte der französische Choreograf Jérôme Bel mit seiner Inszenierung The show must go on! zum Auftakt der neuen Spielzeit am Deutschen Schauspielhaus an der Kirchenallee.
Es beginnt mit Tonight von Leonard Bernstein. Aber noch ist es nicht die Zeit, die Jérôme Bel inte-ressiert. Doch verweist seine Kunst stets auf ein Davor und ein Danach. Mit Let the Sunshine in erhellt sich die Bühne. Das Publikum ist am Premierenabend so aufgekratzt, dass es bereits mitzusingen droht.
Auf einen Schlag sind dann die Schauspieler da. 21 Mitglieder des Ensembles formieren sich zum Gruppenbild: Da ist der Kleine in den kurzen Hosen, die Dünne mit der gezupften Frisur, der Große, über dessen Bauch sich das T-Shirt spannt. Neue Gesichter wie Ursula Doll, Matthias Breitenbach, Sarah Masuch, „alte Hasen“ wie Catrin Striebeck, Anne Weber, Martin Pawlowsky. Ihr Klamottenmix sieht nach generationsspezifischen Teenager-Revivals aus. Die 30 Jahre Popkultur, die hier verhandelt werden, beziffern auch die Altersspanne. „Let 's Dance“ fordert David Bowie auf, und sie zappeln los. Noch pflegt jeder seinen individuellen Stil.
Jérôme Bel knüpft an den offensichtlichsten Punkten an, beantwortet eingängige Textpassagen mit schablonenhaften Zeichen. Wenn dann der „Titanic“-Song erklingt und die Darsteller paarweise die Galionspose inszenieren, möchte man entzückt aufschreien, ob der gnadenlosen Frechheit, mit der Bel verfährt. Doch kühn sprengt er das Schema und dringt dabei in steter Reduktion der äußeren Reize schließlich bis in die Vorstellung des einzelnen Zuschauers vor.
Das Schiff sinkt mit Passagieren und Besatzung an Bord. Im Bühnenboden klafft ein Loch. Gelb leuchtet es aus dem Schacht und Yellow Submarine ertönt. Nach einer Reise durch die Nacht schaut das Publikum, in rosa-rotes Licht getaucht, einander in die Augen. „La vie en rose“ singt Edith Piaf. DJ Shorty sitzt an der Rampe und führt mit harten Schnitten durch die Songs.
Ein Musical der Popgeschichte hat Bel choreografiert, das den Zuschauer zum Hauptdarsteller kürt. Das Versprechen eines neuen Theaters der Sinnlichkeit hat er eingelöst. Womöglich eines Theaters, das die einzig beständigen Wahrheiten erzählt. Ein Delirium! The show must go on! kann man mit Freddy Mercury nach diesem Einstand guten Gewissens fordern.
Irmela Kästner
Weitere Vorstellungen: 3., 6.10, jeweils 20 Uhr, 14.10., 23 Uhr, Schauspielhaus
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