: „Wenn die Fahnen auf halbmast wehen...“
■ In der DDR weicht die Angst, offen Farbe zu bekennen / Auch die Parteibasis bleibt nicht verschont
Trotz der unversöhnlichen Haltung der SED gegenüber den Tausenden von Ausreisern und der Weigerung der Parteiführung, den Massenexodus mit längst überfälligen Reformansätzen einzudämmen, hat sich in der DDR-Hauptstadt in den letzten Wochen einiges getan. Gehörte es früher zum Wesen des DDR-Bürgers, über die Alltagsmängel hinter vorgehaltener Hand herumzumäkeln, wagen jetzt immer mehr, ihrem Unmut offen Luft zu machen. Die Fluchtwelle ist das alles beherrschende Thema, gefolgt von der Verwunderung über die zur Schau gestellte Hilflosigkeit der Partei. Weder die auf Hochtouren rotierenden Propagandamaschinen, noch die verstärkten, aber kopflos wirkenden Aktivitäten der Staatssicherheit können verhindern, daß heute öffentlich geredet wird.
Die Kneipe liegt nur einen Steinwurf von der immer noch geschlossenen Ständigen Vertretung der Bundesrepublik entfernt, vor der zwei Vopos Wache schieben. Drinnen herrscht Wochenendbetrieb, an den runden Stehtischen folgt eine Runde Pils der nächsten. Gesprächsthema: wieviele Kneipen es früher hier im Kiez am Nordende der Friedrichstraße gab (an jeder Ecke zwei), wieviele noch da sind (genug) und wieviele Wohnungen derzeit leerstehen (erheblich mehr).
Schräg gegenüber, so weiß einer zu berichten, sind gerade drei große Altbauwohnungen freigeworden. Früher ging, wenn jemand abgehauen war, alles seinen sozialistischen Gang. Die Stasi kam, versiegelte die Tür, die Einrichtung wurde abgeholt, die Wohnung neu vergeben. Doch seit der enorm gestiegenen „Reiselust“ vieler, kommen die Schnüffler nicht mehr hinterher. In aller Ruhe werden jetzt die Wohnungen von Verwandten oder Freunden ausgeräumt, mit oder auch ohne Schlüssel. Häufig werden sie dann anschließend einfach von Wohnungssuchenden besetzt - das wird dann später umstandslos legalisiert.
„Die Partei ist dabei, ihr Versprechen einzulösen und das Wohnungsproblem bis zum Parteitag 1991 zu lösen“, kommentiert der 25jährige Werner trocken und bestellt eine neue Runde. Die drei 20jährigen Vopos, die gerade durch die Kneipentür kommen, werden allerdings nicht dazu eingeladen, sondern von seinem Tischnachbarn mit einem giftigen „Bullen raus!“ begrüßt. Was folgt, ist nicht etwa die obligatorische Personenkontrolle: die Uniformierten ziehen, im Gegenteil, am selbstbewußt grinsenden Gast vorbei in den Nachbarraum.
Die Angst, dem angehäuften Unmut Luft zu machen, ist vorbei, zumindest in den aufmüpfigen Stadtteilen Berlin -Mitte und Prenzlauer Berg. Wer die Grenze zur organisierten Öffentlichkeit, anders als die Leipziger Demonstranten (siehe nebenstehenden Beitrag), nicht überschreitet, der kann, wie der DDR-Volksmund sagt, nicht tiefer als in die herrschende Klasse fallen - oder er stellt, wie viele seiner Freunde zuvor, eben einen Ausreiseantrag. Ob sich jemand, erneut in Hörweite der Grünen, über seinen defekten Trabi aufregt und lauthals über die Straße brüllt: „Nicht mal Autos bauen können diese Kommunisten!“, oder ob ein Arbeiter, wie in Karl-Marx-Stadt, durch den wie üblich arg verspäteten Pendlerzug der dahinsiechenden Reichsbahn schreit: „Hauptsache, der Honecker kommt pünktlich auf seine Datsche!“ - die Staatsgewalt hält sich die Ohren zu.
Schwieriger wird das Weghören allerdings, wenn die Kritik formvollendet von mittlerweile nicht wenigen der 2,3 Millionen Parteimitglieder der SED kommt. Genossen und Genossinnen, die mit einer „Eingabe“ protestierten, als die sowjetische Zeitschrift 'Sputnik‘ wegen antistalinistischer Artikel Importverbot erhielt, mußte man immerhin schon mit einer schriftlichen Entgegnung antworten. Tenor der SED -Antwort: Die Antwort auf Ihre Frage entnehmen Sie bitte der Ausgabe des 'Neuen Deutschland‘ vom soundsovielten.
Kollektiver Druck
von unten
Doch längst kommt der Druck von unten auch kollektiv. Auf den Parteiversammlungen wird Tacheles geredet. Ähnlich wie im Berliner Zweig des DDR-Schriftstellerverbandes, wo in der letzten Woche mit rund 500 gegen fünf Stimmen (des Vorstandes) eine Resolution verabschiedet wurde, die zur Auseinandersetzung mit den Problemen und zu Reformen aufruft, sieht es fast überall im Kultur- und Wissenschaftsbereich aus. „Da würden 90 Prozent der Parteimitglieder einen Gorbatschow wählen“, schätzt jemand, der sich offenbar auskennt. Würden - nur niemand weiß, wie dieser Hoffnungsträger heißen könnte. So bleiben die GenossInnen - nicht nur an der Basis, sondern auch in der Bürokratie bis hinauf zu den Ministern, die in der DDR nicht viel mehr als Befehlsempfänger der zuständigen ZK-Sekretäre sind - auf den meist unergiebigen Kaffeesatz angewiesen.
Alle wissen zwar, daß es „so nicht weitergehen kann“. Die Kombinatsdirektoren kennen die Stimmung im Betrieb, wissen und berichten auch nach oben, daß Diskussionsthemen wie Ineffizienz, Prämien, Versorgungsschwierigkeiten oder Westreisen nicht mehr abzubügeln sind, daß viele Gewerkschaftsfunktionäre nicht mehr nur Transmissionsriemen der Partei, sondern auch Interessenvertreter sein wollen. Aber solange unklar ist, ob Erich Honecker doch noch einmal aus seinem „Genesungsurlaub“ zurückkehrt und die Zügel fest in die Hand nimmt, streckt aus der Führungsriege niemand den Kopf vor. Wer es versucht hat, wie der Dresdner Parteichef Modrow, bekommt schließlich eins drauf: öffentliche Schelte und eine Überwachungskommission aus Berlin nach der anderen.
Die Genossen
tappen im dunkeln
Und so beginnen die Zukunftszenarien der Wartenden regelmäßig mit einem: „Wenn die Fahnen auf Halbmast wehen...“. Bis dahin versucht man, über die eigene Lähmung mit Ironie und Selbstironie hinwegzukommen. Da entwirft man ein neues Parteiabzeichen - rote Stiefel auf schwarzem Grund - nach dem Motto: die Genossen tappen im dunkeln; oder man stellt dem anderen die Frage, warum das Parteiabzeichen künftig ohne Anstecknadel vergeben wird - damit man es notfalls leichter verschlucken kann.
Soweit allerdings sind die kritischen GenossInnen noch nicht - auch die nicht (und es gibt sie), die bei der Kommunalwahl im Mai in die Kabine gegangen sind und mit Nein gestimmt haben. Die Zahl derjenigen, die den gegenwärtigen Umtausch der Parteibücher zum Parteiaustritt nutzen, ist eher gering; vorsichtige Schätzungen gehen bis zu zehn Prozent. Eher versuchen noch die Optimisten unter den Kritikern, andere vom voreiligen Abschied abzuhalten. Sie hoffen, daß auf Honecker wenigstens ein Übergangskandidat folgen wird - wie vor Jahren in der Sowjetunion Andropov -, der dann entweder dem Druck nach Liberalisierung nachgibt oder Wirtschaftsreformen einleitet, die dann einem DDR -Gorbatschow den Weg ebnen könnten. In den Ministerien jedenfalls, so ist zu hören, liegen Reformpläne fertig in der Schublade, ob zur Sanierung der maroden Infrastruktur oder auch für das Gesundheitswesen.
Von dort kann die entscheidende Initiative freilich nicht kommen. Dafür bricht an der Parteibasis heute schon so mancher Damm. Selbst die Gedanken der verfemten Oppositionsgruppen sind nicht mehr überall tabu. Vergangenes Wochenende, irgendwo am grünen Rand Berlins: Eine Betriebskampfgruppe macht nicht nur Survival-Training im Zelt, sondern hat auch ideologische Schulung auf dem Programm. Der Vortrag beginnt mit der Verlesung eines hektographierten Blattes, in dem vom „politischen und ökonomischen Bankrott“ die Rede ist, von Trauer über den „Massenexodus“ über Ungarn, darüber, daß so viele Landsleute weggehen und von „den Realitäten des Nachbarstaats BRD ernüchtert“ werden. Und die DDR-Regierung wird angeklagt, durch „jahrelange Bevormundung von der Wiege bis zur Bahre, durch rigide Informationspolitik diese Realitätsfremdheit verschuldet“ zu haben. So will es ein Flugblatt der Ostberliner Umweltbibliothek. Es soll daraufhin eine fruchtbare Diskussion gegeben haben - sogar die Vertreterin der Parteikreisleitung war bei der anschließenden Auswertung zufrieden. Nur eine beiläufige Kritik an dem Referenten kam ihr über die Lippen: daß er seinen Vortrag unbedingt mit dieser „Provokation“ beginnen mußte, das hätte sie nicht gut gefunden. Ein Pflichtverweis, der die Debatte in der Betriebskampfgruppe mit Sicherheit nicht beenden wird.
Tobias Lehmann
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