Wenn alte Menschen sterben: Trauer ist alterslos

Dass ein Mensch alt ist, bedeutet noch lange nicht, dass sein Tod eine kleinere Lücke hinterlässt.

Ein Lichtermeer aus Kerzen in einer Kirche

Kerzen für die Toten Foto: Martin Schutt/dpa

Kürzlich war ich in der Kirche bei uns um die Ecke, um eine Kerze anzuzünden, als ich den Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. Es ist eine kleine Kirche, in der fast nie jemand ist, und ich hatte eine Kerze für jemanden angezündet, der mir viel bedeutet, eine Verwandte, die mit 97 Jahren gestorben ist.

Es war kein Moment, in dem ich irgendjemanden hätte treffen wollen. Der Ethikrat setzte sich in eine Kirchenbank, und zu meiner eigenen Überraschung ging ich zu ihm hinüber und sagte einleitungslos: „Als ich gestern jemandem von diesem Tod erzählte, einer klugen Frau, die nicht herzlos ist, sagte sie in etwa: ‚Wenn deine Verwandte so alt war, ist es doch gut so.‘

Vielleicht, zumindest nach äußerem Anschein, ist das wahr, weil sie müde geworden ist, so müde, dass ihr alles viel wurde, selbst die Musik, selbst die Familie. Vielleicht tue ich der nicht herzlosen Frau unrecht, wenn ich in dem ‚gut so‘ noch etwas anderes höre: dass die Lücke, die der Tod eines sehr alten Menschen reißt, kleiner ist als bei jungen.

Ich habe einmal in einem Text einer Autorin, die vor allem unheimliche Krimis schreibt, gelesen, dass der Tod der eigenen Eltern einen um so mehr trifft, je älter man ist. Einmal war ich bei einem Gottesdienst zum Totensonntag, wo jeder nach vorne kommen und eine Kerze für die Verstorbenen anzünden konnte. Es kamen viele, auch ein kräftiger Mann mittleren Alters, er sagte ‚für meine Mutter‘ und dann begann er zu weinen.

Ich glaube, dass einen der Tod immer und immer trifft, aber ich glaube auch, dass man im Alter nicht wehrhafter wird. Weil die Sterblichkeit der anderen und auch die eigene nicht mehr so unwirklich ist, weil man verstanden hat, dass Nähe nichts ist, was man erzwingen könnte. Nahe Menschen sind wie Sternschnuppen, sie erscheinen ohne eigenes Zutun und es wird sehr dunkel, wenn sie verschwinden.

Die alte Frau, die zum Scrabbeln kam

‚Er war schon alt‘, sagen manche Leute als Nachsatz, wenn sie vom Tod des Onkels, der Großmutter sprechen. Als sei es ein alles heilender Trost. Gerade weil sie alt sind, wird es durch ihren Tod umso einsamer in der Reihe ihrer Geschwister und Freunde. Ich denke an die alte Frau, die meine Verwandte zum Scrabbeln besucht hat, und frage mich, wen sie künftig besuchen kann. Ich frage mich, mit wem sie darüber sprechen kann, dass jeden Tag schon beim Aufstehen etwas weh tut und warum das Laufen der Kleinkinder eine Sensation ist und das genauso hart erkämpfte Laufen der Alten nur störend, wenn irgendjemand es eilig hat.

Ich frage mich, mit wem sie sich darüber wundern kann, dass das Kind, das man war, verschwunden ist. Dass der Tod näher rückt und dass der Weg zum Sterben wie eine Lotterie scheint: Man kann es gut treffen oder nicht, und niemand weiß, warum. Ich frage mich, mit wem sie darüber spricht, dass die Welt immer fremder wird und dass es niemanden mehr gibt, der einem durchs Haar streicht, wenn der Schmerz nicht vergeht.

Vielleicht habe ich die Frau, die nicht herzlos ist, und all die anderen missverstanden, und das wäre schön. Ich habe jemanden verloren, der preußische Grazie hatte, das ist eine sehr seltene Mischung und niemand wird sich so über mein schlechtes Trompetenspiel freuen. Ich bin ein bisschen alt und nun bin ich in gewisser Hinsicht verwaist und ich möchte nicht, dass irgendjemand einen Millimeter der Lücke, die nun um mich ist, anzweifelt.“

Der Ethikrat sagte nichts. Manchmal gibt es nichts zu sagen. Dann stand er auf und zündete Kerzen an und es war traurig und nicht traurig zugleich, zu sehen, dass es viele waren.

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