■ Nebensachen aus Madrid: Wenn Spanier zuviel schwätzen
Was dem Wiener das angeregte Gespräch im Kaffeehaus, ist dem Spanier – und vor allem dem Madrider – die tertulia. Solch eine „Versammlung von Personen zur Konversation, Unterhaltung und Entspannung“, wie das Wörterbuch der Königlichen Sprachakademie den Unbedarften über die tertulia aufklärt, findet traditionellerweise entweder zu Hause bei einem der Teilnehmer statt oder an öffentlichem Orte, vorzugsweise in einem der wenigen Madrider Etablissements, die den Namen Café tatsächlich verdienen.
Die Themen: von Politik über Literatur bis hin zu gesellschaftlich Buntem, ganz nach Geschmack, in jedem Fall aber klein, intim, zurückgezogen.
So wäre das sicher auch geblieben, hätten sich nicht Radio und Fernsehen dieses intellektuellen Freizeitvergnügens angenommen. Seither wird auf allen Sendern jeder noch so kleine Winkelzug der Politik durchgekaut. Seit dem 3. März sind die Ergebnisse der Parlamentswahlen Stoff für zahllose, immer gleiche Gespräche von „Experten“, die darüber streiten, wie das Land zu einer neuen Regierung kommt: Wird der konservativen Partido Popular von José Maria Aznar das Bündnis mit den katalanischen Nationalisten von CiU gelingen? Warum haben sich die Wähler an den Urnen anders verhalten, als die Umfragen voraussagten? Wer hat gelogen, die Wähler oder die Meinungsforschungsinstitute? Fragen über Fragen. – Doch bei den tertulias muß es nicht immer politisch zugehen. Prominente und einfache Leute gestehen täglich beim Regionalfernsehen Tele Madrid in „Anas Programm“: „Ich kann ohne Mann nicht leben“, oder sie beleuchten so bewegende Themen wie „die machistische Frau“ oder: „Ist Vortänzerin in einer Diskothek eine Arbeit wie jede andere?“ Die intellektuellere Variante findet sich einmal die Woche in „Jesus Hermidas und Company“ auf Antena 3. Themen wie „Über Fünfzig, kein Grund zum Verzweifeln“ wechseln sich hier schon mal ab mit Wahlkampfdebatten oder der Frage „Die Gleichberechtigung der Frau, gelöst?“
Wer es lieber volkstümlicher mag, kann sich beim gleichen Sender in das Programm „Heute für dich“ einschalten. Unter Titeln wie „Allergiker aller Länder, vereinigt Euch!“ oder „Opfer von ärztlichen Kunstfehlern“ plauschen Betroffene über ihre Probleme mit der Medizin. Zur vorgerückten Stunde wird es dann schlüpfriger: entweder beim allabendlichen Schlager der Saison „Heute nacht überqueren wir den Mississippi“ auf Tele Cinco oder bei den Programmen der Aufklärungstante der Nation, Isabel Gemio – immer nach demselben Strickmuster. Ob „Seitensprung“, „Partnertausch“ oder „Sexuelle Experimente“ – Passanten werden auf der Straße befragt, während die Studiogäste über eingespielte Softpornoszenen und ihre eigenen Erfahrungen philosophieren.
Die Themen scheinen nicht auszugehen. Längst leben ganze Heerscharen von einst arbeitslosen Akademikern vom Job als Tertuliano. Drittklassige Politiker, Uniprofessoren und Journalisten verdienen sich ein kleines Zubrot. Gefragt ist weniger Sachkenntnis als vielmehr Durchhaltevermögen. Wie sonst wäre auch ein Arbeitstag zu meistern, der frühmorgens im Radio beginnt und schon mal zu mitternächtlicher Stunde im Fernsehen enden kann. Woche für Woche, Montag bis Freitag. Mittwochs abends bleibt das Publikum von den tertulias verschont. Dann steht noch Wichtigeres auf dem Programm: Fußball. Reiner Wandler
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