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Wem gehört die uralte „Haggadah“?

■ Komplizierter Streit um wertvolle jüdische Gebetsschrift / Ost- und Westberliner Jüdische Gemeinden bemühen sich um die Wiederbeschaffung ihrer von den Nazis gestohlenen „Haggadah“ aus dem 13. Jahrhundert / Derzeit liegt sie in einem Genfer Banktresor

Auf große Schwierigkeiten stoßen die Jüdischen Gemeinden von West- und Ost-Berlin bei dem Bemühen, eine für sie unersetzliche Schrift aus dem 13. Jahrhundert wiederzubeschaffen. Seit über sechs Monaten liegt die „Haggadah“, die die Gebete zum israelitischen Passah-Fest enthält, im Tresor einer Genfer Großbank. Die Bedeutung der mittelalterlichen hebräischen Gebetsschrift für die Jüdische Gemeinde geht weit über den von Experten auf über eine Million Mark geschätzten materiellen Wert als Antiquität hinaus: „Durch den Nazi-Terror ist soviel jüdisches Kulturgut verschwunden und untergegangen, deshalb gehört die Haggadah dem jüdischen Volk“, sagte Vera Bendt von der Westberliner Jüdischen Gemeinde gegenüber der taz.

Wie alle jüdischen Besitztümer wurde auch die Berliner „Haggadah“ 1938 von den Nazis geraubt. Nach der Pogrom-Nacht verschwand sie aus dem erst 1933 entstandenen Jüdischen Museum. Ursprünglich stammte sie aus der Sammlung des Dresdners Albert Wolf, der die Schrift der Berliner Jüdischen Gemeinde im Jahre 1907 testamentarisch vermacht hatte. 1944 tauchte die „Haggadah“ dann wieder auf. Sowjetische Truppen fanden sie im oberschlesischen Glodzko und übergaben sie an die polnischen Behörden. Nach Ende des Krieges wurde die „Haggadah“ dann im Warschauer Museum für Jüdische Geschichte ausgestellt, aus dem sie 1984 auf bis heute ungeklärte Weise verschwand. Danach verlor sich die Spur der Handschrift, bis sie vor einiger Zeit unter Antiquitäten auftauchte, die beim Genfer Aktionshaus „Habsburg und Feldman“ zur Versteigerung anstanden. Ein Sammler aus Montreal, der sie von einem New Yorker Antiquitätenhänder erworben haben will, hatte sie dem Auktionshaus angeboten. Der Händler wiederum behauptet, die Schrift dem Leiter des Jüdischen Instituts in Warschau abgekauft zu haben. Eine Klage der polnischen Regierung gegen den kanadischen Sammler wegen Hehlerei veranlaßte den Genfer Untersuchungsrichter Vladimir Stemberger, die „Haggadah“ noch vor der Versteigerung zu beschlagnahmen und in einem Banktresor zu deponieren.

Mittlerweise sind bei der Genfer Justiz Klagen der Berliner Jüdischen Gemeinden, des Jüdischen Weltbundes, der polnischen Regierung sowie des kanadischen Sammlers auf die Besitzrechte an der „Haggadah“ anhängig. Gegen ein erstinstanzliches Urteil zugunsten des Weltkongresses am 22. November legten Warschau und der Kanadier Berufung ein. Die Polen argumentierten bislang, daß nach ihrem Recht eine Fundsache nach drei Jahren in den Besitz des Finders übergeht. Der Sammler aus Montreal beruft sich darauf, beim Kauf in gutem Glauben und ohne Wissen über die zweifelhafte Herkunft seiner Erwerbung gehandelt zu haben. Rechtsanwalt Philippe Grumbach, der den Jüdischen Weltkongreß vertritt, bestreitet den Anspruch des polnischen Staates auf das jüdische Kulturgut mit Berufung auf ein Urteil bei den Nürnberger Prozessen von 1946. Danach gehöre der Raub jüdischen Eigentums durch die Nazis zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die - im Gegensatz zu Kriegsverbrechen nicht verjährbar sind.

Ende des Monats wird Grombach nach Warschau reisen, um direkt mit der polnischen Regierung zu verhandeln. Gegenüber der taz erklärte er letzte Woche, es gebe inzwischen Anzeichen dafür, daß Polen zu einer außergerichtlichen Klärung bereit sei. Im Streit mit dem kanadischen Sammler werde es jedoch auf jeden Fall zu einem Gerichtsprozeß kommen. Bis spätestens 12. April wird Grumbach seine Klageschrift vorlegen. Inzwischen sind sämtliche Beteiligten übereingekommen, daß der Prozeß nach Schweizer Recht und damit vor dem Genfer Appellationsgericht stattfinden wird. Laut Vera Bendt von der Jüdischen Gemeinde sind die Chancen, daß die Haggadah weiter unter Verschluß bleibt, „nicht schlecht“. Ob die Jüdischen Gemeinden von Berlin jedoch neben dem moralischen Recht auf die Haggadah auch juristische Besitzansprüche als Rechtsnachfolgerin der alten Gemeinde habe, müsse noch geklärt werden.

Andreas Zumach, Genf

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