Weißhelme in Syrien: Urlaub von der Hölle
Ismail Alabdula ist 29 Jahre alt. Als der Krieg kam, wurde er zum Helfer. Seine Tweets aus Aleppo haben den Weißhelm bekannt gemacht.
Ismail Alabdula ist 29 Jahre alt. Am 20. Dezember 2016 wurde er aus dem Ostteil Aleppos gerettet. „Das war der letzte Tag der Evakuierungen aus der Stadt. Ich habe mein Herz und meine Seele dort zurückgelassen“, sagt er. Das Treffen findet in den Räumen der freiwilligen Organisation „Weißhelme“ in Gaziantep statt.
Die Stadt befindet sich im Süden der Türkei, 120 Kilometer von Aleppo entfernt. Vor vier Jahren wurde Gaziantep zum Tor für Flüchtlinge aus Syrien. Die Mitglieder der Weißhelme kümmern sich um die syrische Zivilbevölkerung, die in Gebieten lebt, die von der syrischen Opposition kontrolliert werden. Ismail ist einer der Weißhelme. „In den letzten dreieinhalb Jahren habe ich dabei geholfen, Verschüttete aus den Trümmern bombardierter Häuser herauszuholen. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Einige jedoch habe ich mit meinen eigenen Händen retten können“, erzählt Ismail und senkt die Stimme. Die Haut an seinen Händen ist ganz rau. Die Weißhelme begannen vor einigen Jahren, den Menschen zu helfen. Heute sind sie ein fester Bestandteil des Prozesses, den Menschen Erste Hilfe zu leisten. 2016 wurden sie mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Ismail ist von Anfang an dabei.
„In den vergangenen zwei Jahren war ich ständig im Osten Aleppos. Jetzt habe ich diese Stadt und Syrien erstmals wieder verlassen“, sagt er. In der Türkei hält sich Ismail illegal auf. Für 500 Dollar halfen ihm Schlepper dabei, über die Grenze zu kommen. „Zuerst ging ich dreieinhalb Stunden zu Fuß, durch Wälder und bergiges Gebiet. Ich sah Grenzpolizisten, doch wir schafften es schon beim ersten Versuch.“ Unter den Schleppern seien sowohl Türken als auch Syrer gewesen.
Ismail will berichten, was in seinem Land passiert
„Ich habe gehört, dass türkische Grenzpolizisten auf diesem Weg am nächsten Tag neun Illegale erschossen haben“, sagt Ismail.
Nach langen Jahren des ständigen Beschusses wollte er wieder zu sich zu kommen und über seine Zukunft nachdenken. „Ich möchte alte Freunde treffen, mich daran erinnern, wie es ist, ein normales Leben zu führen. Deshalb bin ich gekommen, auch wenn ich dabei mein Leben riskiere. Ich brauche Menschen um mich herum, die nicht leiden, sondern in ein Café gehen, lachen und sich des Lebens freuen.“
Ismail
Doch das ist nicht der einzige Grund. Ismail will berichten, was in seinem Land passiert. In einigen Tagen will er nach Syrien zurückkehren, in die östlichen Stadtteile Aleppos. „Ich werde wieder als freiwilliger Helfer arbeiten, das ist meine Pflicht. Etwas sagt mir, dass ich das tun muss.“ Er ist nervös und spielt mit seinem Mobiltelefon. Wegen seines illegalen Grenzübertritts muss er bei seiner Rückkehr an der türkisch-syrischen Grenze nach einem neuen Schleichweg suchen. „Hier ist es sicherer als in Syrien. Dort gibt es überhaupt keinen sicheren Platz mehr. Aber ich fühle mich fremd in der türkischen Gesellschaft. Ich bin gezwungen, zurückzukehren, denn das ist meine Schuldigkeit“, sagt Ismail und es klingt wie eine Beschwörung.
Das Leben vor dem Krieg
2011 beendete er sein Philologie-Studium an der Universität in Aleppo. Als Englischlehrer arbeitete er nicht einen einzigen Tag. Er schloss sich sofort den Aufständischen an, und dann begann auch schon der Krieg. „Vor dem Krieg hatten wir alles, was zu einem glücklichen Leben gehört. Ich bin jung und gut ausgebildet. Ich hatte eine Wohnung, ein Auto und Pläne für die Zukunft. Um mich herum waren meine Freunde“, erinnert sich Alabdula. Jetzt, wo er in der Türkei ist, trifft sich der junge Mann mit alten Freunden. „Nach Jahren im Krieg ist es sehr schwierig, zu einem normalen Leben zurückzufinden. Wenn ich hier meine Freunde sehe, dann kommt mir das alles unnormal vor. Ich weiß nicht, ob ich Hass empfinde. Aber ich kann nicht verstehen, warum es Menschen gibt, die ein ruhiges Leben leben, während andere unter dem Krieg leiden müssen. Und das alles passiert so dicht beieinander.“
Ismail wurde durch seine Tweets aus dem umkämpften Aleppo auch international bekannt. Er stellte Fotos und Videos von den Angriffen ins Netz und stets auch aktuelle Nachrichten. Als die Einnahme Aleppos durch Assads Truppen offensichtlich war und jeden Tag hunderte Menschen starben, begannen er und andere Gleichgesinnte im Netz mit ihrer Aktion #SaveAleppo. Auf Twitter posteten sie Videos mit Appellen, Aleppo zu retten. In der belagerten Stadt war das Internet das einzige Mittel, um eine Verbindung zur Außenwelt herzustellen.
„Twitter, das war für mich die größte Hilfe. Ich sah, wie wichtig es für die Menschen war, zu erfahren, was bei uns im Land passiert. Das gab unserem Überlebenskampf in gewissem Maß einen Sinn. Dass wir uns Gehör verschaffen konnten“, sagt Ismail. Er erinnert sich daran, wie sich mit der Ankunft russischer Truppen der Fortgang des Krieges vollständig veränderte. Vorher hätte die Opposition den Regierungstruppen noch Widerstand entgegensetzten können. Doch dann begannen die russischen Luftschläge. „Sie wussten genau, was sie bombardierten. Freiwillige Helfer, Kliniken und Wohnhäuser. Ganz am Anfang, als sie versuchten, Aleppo unter ihre Kontrolle zu bringen, bombardierten sie dreimal unser Krankenhaus. Der dritte Angriff zerstörte das Gebäude komplett. Einige Ärzte und Krankenschwestern wurden getötet. Dann zerstörten sie das Zentrum der Weißhelme“, sagt Alabdula.
Sniper, Raketen, Panzer, Kassettenbomben
„Wenn Russland jemanden töten will, dann weiß es, was zu tun ist. Sie benutzten die neuesten Waffen, die sogar militärische Einrichtungen in Schutt und Asche legen können. Was soll man da noch über gewöhnliche Wohnhäuser sagen?“ Als er nach seinem schlimmsten Erlebnis in dieser Zeit gefragt wird, schweigt Ismail lange. Er gibt zu, dass es schwierig sei, einen Fall herauszugreifen. „Ich habe viele schreckliche Dinge gesehen, das aber war am unerträglichsten.“
Im Osten Aleppos, in der Nähe der Front, waren er und einige Kollegen in ihren Unterständen geblieben, als Assads Truppen angriffen. Es begann sehr schwerer Beschuss – Sniper, Raketen, Panzer, Kassettenbomben. Sie versuchten den Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Sie hätten zu einem benachbarten Gebäude laufen können, das sicherer als ihres war, um Schutz zu suchen. „Ich sah, wie eine Kassettenbombe auf einen Zivilisten fiel, der auch in diese Richtung lief. In diesem Haus hielten sich noch viele Zivilisten auf. Sie waren in der Stadt geblieben, weil sie ihre Häuser nicht im Stich lassen wollten. Sowieso hätten sie nicht gewusst, wohin.“
An diesem Tag wurde einer von Ismails Kollegen verschüttet. Er rief sie an. „Doch die Bombardierungen waren so stark, dass wir unseren Unterstand nicht verlassen konnten. Wir konnten ihn nicht retten . . .“ Ismail möchte das Gespräch in einem syrischen Café fortsetzen. Auf dem Weg dorthin spricht er nur wenig und hört stattdessen lieber zu. Im Café bestellt er traditionelle syrische Gerichte, aus den Lautsprechern erklingen leise syrische Melodien. Zum ersten Mal zeigt sich auf Ismails Gesicht ein leichtes Lächeln. „Ich habe alles verloren, was mir lieb und teuer war. Erinnerungen, die Straßen, auf denen ich zur Universität gegangen bin, und Cafés, wo ich mich mit Freunden getroffen habe. Das ist ein schreckliches Gefühl, wenn dir klar wird, dass du nicht zu nach Hause zurückkehren kannst. Du wirst verrückt . . .“, sagt Ismail.
Er versucht gar nicht erst, seine Ermattung und das Gefühl von Hoffnungslosigkeit zu verbergen. „Ich weiß nicht, was den Menschen in dieser Situation jetzt hilft. Viele haben alles verloren, den Sinn ihrer Existenz. Ich habe Schwangere gesehen, die ihre Kinder, und verletzte Kinder, die ihre Eltern verloren haben.“
Aber er sei froh, helfen zu können Schließlich sei das doch sein Heimatland, warum sollte er weggehen? Er habe eine Wahl getroffen: ausharren bis zum bitteren Ende. Die meisten der Evakuierten aus Aleppo sind jetzt in der Region um die Stadt Idlib. Sie befürchten, dass sich das Szenario von Aleppo dort wiederholen könnte. So auch Ismail. „Wenn der Konflikt nicht politisch gelöst wird, wird auch diese Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Es heißt, dort gebe es einen Waffenstillstand, aber das ist nicht wahr.“
Auf dem Weg aus dem Café fällt der Blick auf einen Nachbartisch mit Speisen, die niemand angerührt hat. Ismail dreht sich um. „Menschen in Friedenszeiten sind irgendwie nicht normal.“
Aus dem Russischen von Barbara Oertel. Die Autorin war Teilnehmerin des Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung
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