SIE RASEN, DOCH SIE SIND UNSCHULDIG : Weiße Lieferwagen
VON ULI HANNEMANN
Ausgiebig schaue ich erst nach links und dann nach rechts. „Schau links, schau rechts, schau geradeaus, dann erwischt dich sicher einer von links, weil du da am längsten nicht mehr hingeguckt hast.“ Diese Regel wurde mir schon als Schulkind eingetrichtert. Und tatsächlich werde ich beinahe von links überfahren. Denn als der Hauptstrom der Autos längst an mir vorüber ist, hetzt in einem Höllentempo der obligatorische weiße Lieferwagen hinterher. Natürlich bei Rot. Das bedeutet – Faustregel! –, dass ich danach wirklich sicher die Fahrbahn überqueren kann. Es sei denn, nun käme noch ein zweiter weißer Lieferwagen bei derart tiefem Rotlicht, dass es fast schon wieder grün wird.
Der weiße Lieferwagen, wie so oft der Marke Mercedes Sprinter, fährt so dicht an mir vorbei, dass ich das Rote in den Augen des Fahrers erkennen kann. Ist das die Übermüdung, das Amphetamin oder das in der Pupille gespeicherte und widerscheinende Rotlicht sämtlicher bereits an diesem Tage verkehrswidrig überfahrener Lichtzeichen?
Auf jeden Fall tut er mir leid. Die Fahrer aller weißen Lieferwagen tun mir leid. Als anständige junge Burschen machen sie den Führerschein und legen voller Inbrunst den Eid auf die Straßenverkehrsordnung ab. Anschließend fahren sie mit einem kleinen Fiat achtsam durch die Gegend. Sie tun keiner Menschenseele etwas zuleide, noch nicht einmal den Radfahrern, blinken artig, hupen nur bei Gefahr und nachts schalten sie sogar die Scheinwerfer ein. Gewiss halten sie auch mal schalkhaft auf Schülerlotsen zu, doch stets bleiben sie schmunzelnd wenige wohlberechnete Zentimeter vor ihnen stehen. Kurz, sie sind vorsichtige und rücksichtsvolle Verkehrsteilnehmer.
Dann die Lehre oder ein Studium. Die erste Freundin, die zweite, die dritte. Alles läuft nach Plan. Doch nach der Ausbildung gerät das Leben ins Stocken. Für einen Kulturwissenschaftler mit dem Nebenfach Lebensmittelästhetik findet sich kein Job. Bei der ersten Trunkenheitsfahrt landet der Fiat gleich an einer Ampel. Erste Vorstrafen wegen Körperverletzung und unerlaubten Drogenbesitzes. Speed, Kokain, Pfefferlikör. Auch die dritte Freundin sucht das Weite.
Als der zukünftige Fahrer eines weißen Lieferwagens ganz am Boden ist, taucht wie aus dem Nichts auf einmal dieses Inserat auf: „Lieferfahrer gesucht“. Ein Rettungsanker! Wird jetzt alles gut? Er wird sofort genommen. Man weist ihn ein und drückt ihm den Autoschlüssel für den im Hof stehenden weißen Lieferwagen in die Hand. Er setzt sich hinein, dreht den Zündschlüssel – doch was ist das? Das Ding rast auf einmal los wie nichts Gutes. Er versucht noch die Bremse zu treten, doch auch die ist ein Gaspedal. Die Kupplung: Ein drittes Gaspedal. Die Blinker, der Scheibenwischer, die Heizung: Alles Gashebel und -knöpfe. Nur das Radio funktioniert wie gewohnt, wenn auch nur auf höchster Lautstärke, und die Hupe. Damit kann er wenigstens die anderen Verkehrsteilnehmer warnen, während er BVG-Busse schneidet, Radler umnietet und mit hundert Sachen über rote Ampeln, Zebrastreifen und durch Spielstraßen kachelt.
Erst spät bemerkt er, dass man mit der Hupe auch bremsen kann, wenn man sie länger als fünf Minuten am Stück betätigt. Aufatmend parkt er auf dem Radweg oder Bürgersteig. Woanders geht nicht, dann bockt die Karre und heizt von selbst sofort wieder los. Da kann er gar nichts machen, das ist schon schlimm. Die Fahrer der weißen Lieferwagen tun mir leid.