: Wehrpflicht und Demokratie
Die moderne Form der allgemeinen Wehrpflicht, das heißt die Heranziehung der Männer für den Kriegsdienst, wurde 1793 im revolutionären Frankreich erfunden – zunächst betraf sie nur unverheiratete Männer zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren.
Im Rahmen der napoleonischen Besetzung wurde zwischen 1803 und 1810 die allgemeine Wehrpflicht in den an Frankreich angegliederten Teilen West- und Norddeutschlands eingeführt. 1813 – mobilisierend gegen Napoleon – zog Preußen nach und führte die allgemeine Wehrpflicht ein: Die zahlreichen Niederlagen des friderizianischen Adels- und Söldnerheers gegen die napoleonischen Armeen seit 1806 hatten die Überlegenheit des modernen Systems allzu deutlich vor Augen geführt.
1848 schufen die Revolutionäre Bürgerwehren. Im Überschwang ihres vermeintlichen Sieges paradierten die Bürger bewaffnet durch die Städte und fühlten sich stark genug zur Übernahme der Staatsgewalt und zur Landesverteidigung.
Die Saat der Schützenvereine ging auf und blühte auch nach Niederschlagung der Revolution weiter. Nach den siegreichen Einigungskriegen von 1864 bis 1871 kamen die Kriegervereine hinzu. In ihnen organisierten sich auch bereitwillige Nationalkrieger aus den unterbürgerlichen Schichten.
1914/15 zog die Mehrheit der europäischen Männer „freiwillig“ – das heißt teils aus wirklicher Überzeugung und um die eigene Männlichkeit zu beweisen, teils aufgrund des männerbündischen Gruppenzwangs am Arbeitsplatz, in Schulen, Universitäten und Vereinen – in den Krieg.
Grob gesagt: Je stärker eine soziale Schicht verbürgerlicht war, desto größer war das Ausmaß der inneren Überzeugung, für das Vaterland kämpfen zu müssen. Am ausgeprägtesten im Bürgertum, geringer unter Arbeitern, bei denen die Aufstiegsorientierten und vor allem die jüngere, im Wilhelminismus sozialisierte Generation kriegsbegeisterter waren; am meisten Unwilligkeit gab es auf dem Land. Das Zentrum Europas und die Städte waren kriegsbegeisterter als die Peripherie. Entschiedensten Widerstand gab es in den Dörfern Russlands und Österreich-Ungarns, in Süditalien, an den Rändern Frankreichs und Englands.
Als 1956 die allgemeine Wehrpflicht in Westdeutschland wieder eingeführt wurde (in der DDR erst im Januar 1962, nach dem Mauerbau), wurde zugleich die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung zugestanden (in der DDR erst 1964) – allerdings nur unter demütigenden Rahmenbedingungen (der „Gewissensprüfung“, deren Tenor war, die Männlichkeit der Verweigerer anzuzweifeln) und wenn man einen „zivilen Ersatzdienst“ leistete. Auch in der Sprache des Grundgesetzes ist das Militärische das Normale – das Zivile nur der Ersatz.
Auch der Linken ist das Militärische nicht fremd. In den späten Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts trug sie nicht nur eine fantasievolle Armeekluft (US-Parka in Kombination mit einem Palästinensertuch), sondern sie verweigerte zwar in Deutschland den Kriegsdienst, jubelte aber revolutionären Militärführern wie Mao Tse-Tung, Ho Chi Minh, Fidel Castro, Muammar al-Gaddafi oder Robert Mugabe begeistert zu.
CHRISTIAN JANSEN
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