: Wehrpflicht ist nicht unantastbar
■ Die Abschaffung der Wehrpflicht in Frankreich stößt auch bei Linken und Pazifisten auf Kritik. Präsident Jacques Chirac will eine schnelle High-Tech-Armee, die weltweit einsetzbar ist Aus Paris Dorthea Ha
Wehrpflicht ist nicht unantastbar
Wer heute zwölf Jahre alt ist, männlich und Franzose – für den hält Präsident Jacques Chirac ein besonderes Präsent bereit: die Abschaffung des Militärdienstes. In sechs Jahren soll die Armee von jetzt 500.000 Personen auf 350.000 geschrumpft sein und nur noch mit Berufssoldaten funktionieren. Zur Begründung dieses größten Tabubruchs in der französischen Militärgeschichte erklärte Chirac in einem Fernsehauftritt am Donnerstag abend, Frankreich brauche eine effizientere, modernere und billigere Armee und das gegenwärtige „Verteidigungswerkzeug“ sei „völlig unangepaßt“.
Über eine Stunde lang erklärte der Staatspräsident sein Projekt, dem monatelange Vorarbeiten zwischen Verteidigungsministerium und Elysée-Palast vorausgegangen waren. Das Land müsse in der Lage sein, kurzfristig 50.000 bis 60.000 Mann zu Militäreinsätzen ins Ausland zu schicken, sagte er. Das sei unter den gegenwärtigen Bedingungen einer Wehrpflichtigenarmee nicht möglich. Die Zahl der Regimenter soll von gegenwärtig 124 auf künftig „83 bis 85“ reduziert werden. Die stärksten Einschnitte wird es beim Heer mit gegenwärtig 268.000 Soldaten geben. Zahlenmäßig aufgestockt werden soll nur die ebenfalls dem Verteidigungsministerium angegliederte Gendarmerie.
In der umstrittenen Frage, ob es künftig eine andere Dienstpflicht geben wird, drückte sich Chirac vor einer Entscheidung. In unfreiwilliger Komik sprach er von einem „freiwilligen Pflichtdienst“ und korrigiert sich umgehend mit den beiden Alternativen, über die es in den kommenden Monaten eine „große nationale Konsultation“ geben soll: Sechs Monate Pflichtdienst für Männer und Frauen in staatlichen Institutionen – von der Gendarmerie über die Feuerwehr bis hin zu humanitären Diensten. Oder einen gleich langen freiwilligen Dienst.
Es soll auch billiger werden
Die Verwandlung in eine Berufsarmee soll einhergehen mit einem Umbau des französischen Waffenarsenals, vor allem im atomaren Bereich. Nur die see- und luftgestützten Atombomben sollen beigehalten werden, während die landgestützen Atomwaffen verschwinden – die im Plateau von Albion vergrabenen ebenso wie die erst 1991 eingeführten „Hadès“-Raketen, die mit ihrer Reichweite von nur 500 Kilometern zwangsläufig auf deutschem Boden einschlagen würden. Die Fabrik zur Herstellung von atomaren Sprengköpfen in Pierrelatte soll zumachen. Die großen Aufrüstungsprogramme der französischen Armee in den anderen Bereichen hingegen – die Flugzeugträger, U-Boote, Kampfflugzeuge „Rafale“ und Hubschrauber „Tigre“ und „NH 90“ – sollen beibehalten werden, versicherte Chirac. Wieviel Frankreich tatsächlich mit den geplanten Reformen sparen kann, verriet Chirac nicht. „Diese Frage hat nicht den geringsten Sinn“, sagte er. Er versicherte, daß das Militärbudget der Zukunft „niedriger“ sein wird als das gegenwärtige.
Eine Abkehr von Frankreichs europäischen Verpflichtungen beinhaltet das neue Militärkonzept angeblich nicht. Chirac lobte ausdrücklich die britische Berufsarmee und betonte, daß Frankreich zwar ein unabhängiges Land sei, er aber seine Reform mit Kanzler Kohl abgesprochen habe und es mit den Deutschen nicht das geringste Problem gebe. Sowohl Eurocorps als auch die deutsch-französischen Rüstungsprogramme gingen unverändert weiter. Von der Nato, in deren Integration Frankreich soeben zurückgekehrt ist, sprach Chirac nicht. Den Golfkrieg hingegen zitierte er mehrfach als Beleg für die Notwendigkeit eines neuen Verteidigungskonzeptes. Damals habe sich gezeigt, wie schwerfällig die französische Armee sei und wie flexibel die britische und die US- amerikanische, erklärte er.
Keine neue Friedenspolitik
Der Inhalt der Erklärung von Chirac, die in den nächsten Wochen parlamentarische Debatten und Abstimmungen nach sich ziehen wird, war zwar erwartet worden, sorgte aber trotzdem für große Aufregung in Frankreich. Der Militärdienst gilt in als eine der Errungenschaften der Französischen Revolution – auch wenn er erst 1905 zu gleichen Bedingungen für alle Männer eingeführt wurde. Die im Anschluß an die Erklärung in einem Fernsehstudio versammelten Exverteidigungsminister warnten vor allem vor den Gefahren für die Identifikation mit der französischen Nation, die sich aus der Abschaffung des Militärdienstes ergeben würden. Die Sozialisten sprechen sich eindeutig gegen eine reine Berufsarmee aus. Auch die Kommunistische Partei fürchtet um den nationalen Zusammenhalt. Die französischen Konservativen haben unterschiedliche Positionen zu ihrer Notwendigkeit.
Selbst französische Pazifisten, die seit Jahren für das Recht auf Militärdienstverweigerung kämpfen, sind von der Chirac- Reform nicht begeistert. „Da wird keine neue Friedenspolitik entwickelt, sondern lediglich dem Finanzmangel Tribut gezollt“, kritisiert der Sprecher der „Bewegung für eine gewaltfreie Initiative“.
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